Perfektion in der Krise? Mehr Pragmatismus wagen!

Martin von Broock, Andreas Suchanek

In der Coronakrise macht sich Ernüchterung breit: Impfungen, Soforthilfen, Tests – so einiges stockt hierzulande. Viele sehen eine Ursache im deutschen Perfektionismus. Tatsächlich brauchen wir für raschere Fortschritte mehr prinzipienbasierten Pragmatismus. Der ist aber keine Einbahnstraße. Pragmatische Vorstöße wie die Impfinitiative der deutschen Wirtschaft erfordern Kompromissbereitschaft.

Von der Führungsrolle ins Mittelfeld

Im Management der Pandemie lag Deutschland Anfang März im Vergleich von 53 Ländern nur auf Platz 34. Und dies, obwohl wir wie kaum ein anderes Land Mittel für die Krisenbekämpfung bereitstellen. Tatsächlich war Deutschland nach Ausbruch der Pandemie zunächst führend im Krisenmanagement. Das Vertrauen in die Institutionen und die Bereitschaft zur solidarischen Kooperation waren nachweislich hoch. Inzwischen deutet sich eine Trendumkehr an. Umso mehr stellt sich die Frage: Wo liegen Problemursachen, an denen wir konstruktiv – und jenseits bloßer Empörungen – ansetzen können?

Das Beste oder nichts?

Der Virologe Christian Drosten kommentierte kürzlich im NDR-Podcast: „Ich habe manchmal ein Gefühl, dass da ein deutscher Perfektionismus entstanden ist, der das alles supertoll machen will und von zentraler Stelle das alles in der Hand haben will, während man vielleicht anerkennen sollte, dass es sowieso nicht perfekt sein wird und auch gar nicht sein muss.“ Nun ist der deutsche Perfektionismus nicht erst in der Krise entstanden. Er hat eine lange Tradition. Von der Leitmaxime „Das Beste oder nichts“ des Automobilerfinders Gottlieb Daimler bis zum weltweit führenden Qualitätssiegel „Made in Germany“: Unsere Leidenschaft für Detailoptimierung hat uns erhebliche Erfolge beschert. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass wir an das Pandemie-Management – von Hygienekonzepten über die Corona-App bis zur Impfstrategie – mit hohen (oder höchsten?) Ansprüchen und großer Detailtiefe herangehen. Aber: Die einstige Stärke erweist sich nun offenbar als Hindernis.

Kompromisslose Perfektion führt zu „Lose-Lose“

Wer Ursachen für die aktuellen Probleme vorschnell allein in der Politik ausmacht, übersieht: In den zunehmend hitzig geführten Spitzenrunden spiegeln sich letztlich viele widerstreitende Perfektionsansprüche wider, die an die politischen Entscheider*innen herangetragen werden: Bürger*innen möchten verantwortbare Freiheiten schnellstmöglich wieder nutzen, Eltern ein möglichst verlässliches Bildungsangebot und rasche Entlastungen, Risikogruppen bestmöglich geschützt werden, Unternehmen ihre Wettbewerbsfähigkeit größtmöglich erhalten, Virologen die Pandemie möglichst effektiv eindämmen, Medien ihre Reichweite möglichst verbessern, Verwaltungen die oft unpräzisen Vorgaben rechtssicher umsetzen und Politiker*innen im Wahlkampf möglichst viele Stimmen gewinnen. Perfektionsansprüche und Optimierungserwartungen sind mit anderen Worten weit verbreitet und keine Einbahnstraße.

Das Problem: Je größer das Perfektionsstreben, umso geringer die Anpassungs- und damit die Kompromissfähigkeit. Denn Kompromisse setzen eben gerade voraus, dass alle von ihren Erwartungen an die – aus jeweils eigener Sicht – perfekte Lösung abweichen. Anderenfalls, so die spieltheoretische Logik des Gefangendilemmas, endet man gemeinschaftlich in der gegenseitigen Schlechterstellung. Und dies scheint die gegenwärtige Situation zu sein: Kaum einer profitiert, fast alle verlieren. Vor allem aber wird dabei ein wichtiger gemeinschaftlicher Vermögenswert beschädigt: Das (Selbst-)Vertrauen in die Leistungsfähigkeit unserer demokratischen Strukturen – und damit auch in unsere gesellschaftliche Problemlösungsfähigkeit. Wie lässt sich diese Abwärtsspirale durchbrechen?

Prinzipienbasierter Pragmatismus als Ausweg

Das Gegenkonzept zu Perfektionismus kann natürlich nicht im Laissez-faire liegen. Schließlich sind Qualitätsversprechen und -ansprüche mitausschlaggebend für den Faktor Vertrauen. In Zeiten hoher Ungewissheit müssen wir allerdings unsere Erwartungen wechselseitig pragmatisch anpassen, wenngleich bestimmte Standards prinzipiell zu sichern sind. Gerade in Krisen sollten wir deshalb von Perfektionismus auf einen prinzipienbasierten Pragmatismus im Dreiklang „Werte, Wirklichkeit, Investitionen“ umschalten:

Werte: Was wollen wir?

Je größer der Handlungsdruck, umso mehr Dinge werden zur Disposition gestellt. Die Verständigung über grundlegende ethische Orientierungen ist deshalb essenziell: Welche gemeinsamen Werte leiten die Lösungsfindung? Von welchen Prämissen wollen wir nicht abweichen? Worauf können wir vertrauen? Im letzten Jahr haben wir wichtige Grundsatzdebatten über die Beschränkung von Grundfreiheiten und ihre Voraussetzungen geführt. Richtungsweisend war vor allem die intensive Diskussion über den Schutz der Risikogruppen und die Folgen; insbesondere für die Wirtschaft (siehe WZGE-Standpunkt „Geld oder Leben“). Diese grundlegenden Klärungen waren notwendig für viele weitreichende Entscheidungen, etwa den Verzicht auf ein frühes Konzept der Herdenimmunität (ohne Impfstoff) wie auch die spätere Ausrichtung der Impfstrategie.

Wirklichkeit: Was können wir?

So wichtig solche Grundsatzklärungen sind: Erst in der Umsetzung konkreter Maßnahmen werden die (Werte-)Konflikte und Dilemmata sichtbar. Und damit die Notwendigkeit zu Kompromissen: „Wir können prinzipiell gut, günstig und schnell – davon aber immer nur zwei Dinge zugleich.“ Diesen Leitsatz aus dem Handwerk oder der Beratung kennt fast jede*r. In der Pandemie haben wir bei vielen Maßnahmen noch weitere Prämissen angelegt – durchaus mit guten Gründen, aber eben auch mit „deutscher Gründlichkeit“. Beispiel Impfungen: neben gut, günstig und schnell sollen diese auch möglichst gerecht (Impfreihenfolge), sicher (Infrastruktur) und flexibel (Wahlfreiheit) verabreicht werden. Nun zeigt sich immer mehr, dass hierzulande beim Streben nach Optimierung aller Prämissen bislang ausgerechnet der Faktor „Zeit“ das Nachsehen hatte. Beispiel Kosten: Die schnelleren Impffortschritte in Israel und Großbritannien sind vor allem auf höhere Zahlungsbereitschaften in der Impfstoffbeschaffung zurückzuführen. Wenn wir unseren Rückstand aufholen wollen, müssen wir jenseits der Vorstellung eines perfekten Systems neue „Zielkompromisse“ (nochmals C. Drosten) ausloten.

Investitionen: Wie sollten wir Kompromisse fördern?

Allgemein gilt im Sinne der Goldenen Regel: Wer von Anderen etwas erwartet, sollte auch selbst Angebote machen. Statt (moralischer) Empörungen und Schuldzuweisungen sind gerade jetzt konstruktive Ideen und Vorschläge gefragt, wenn wir vernünftige Kompromisse vorantreiben wollen. Beispielsweise wollen immer mehr Unternehmen über ihre Betriebsärzte selbstständig und auf eigene Kosten Impfungen anbieten. Diese Angebote sind indes ihrerseits auf Zugeständnisse – oder Investitionen – anderer angewiesen. So sind Impfungen durch Betriebsärzte in der Strategie des Bundes kurzfristig (noch) nicht vorgesehen. Und klar ist auch: Je mehr die Infrastruktur dezentralisiert wird, umso weniger lassen sich die Impfreihenfolge oder auch bestimmte Qualitätsstandards lückenlos kontrollieren. Ohne ein Mindestmaß an Vertrauen wird es also nicht gehen, wenn weitere zeitintensive Arbeitskreise und kleinteilige Verordnungen zur „Prozessperfektionierung“ vermieden werden sollen. Und gerade im Faktor Zeit liegt das größte gemeinsame Potenzial: Mit einer raschen Herdenimmunität würden sich ausnahmslos alle Menschen (Impfgegner eingeschlossen!) besserstellen. Und darin liegt – bei allem Pragmatismus – ein Prinzip, das auf keinen Fall aufgegeben werden darf: der Wert des Respekts, der selbst kompromisslos bleibt.

Aus der Krise für die Zukunft

Vielleicht liegt in der Krise ja die große Chance für Deutschland, mehr prinzipienbasierten Pragmatismus zu fördern. Für die vielbeschworene Resilienz dürfte die Fähigkeit zu rascheren, aber nicht beliebigen Kompromissen wesentlich sein. Schließlich werden wir auch viele weitere Herausforderungen – von der Klimakrise über die Energiewende bis zum digitalen Wandel – nicht mit Perfektionismus allein lösen.