Martin von Broock, Andreas Suchanek

Auf den Lockdown folgen die Lockerungen: Die Rückkehr zu alten Freiheiten ist notwendig. Sie verlangt aber neue Selbstbegrenzungen.

Viele freiheitliche Systeme erweisen sich bislang als sehr leistungsfähig in der Bekämpfung von Covid19. In einem internationalen Länderranking zur Maßnahmeneffizienz belegt Deutschland derzeit sogar den ersten Platz. Das mag manche überraschen. Denn „harte“ Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen sind in demokratisch verfassten Staaten ungleich schwieriger umsetzbar als in Autokratien: Erstens müssen gewählte Regierungen freiheitsbeschränkende Maßnahmen permanent (re-)legitimeren. Zweitens verfügen sie im Hinblick auf die Durchsetzung jener Maßnahmen immer nur über begrenzte Zwangsmittel.

Ad-hoc-Krisenmanagement gelingt in Demokratien nur dann, wenn eine große Mehrheit der BürgerInnen den verordneten Freiheitsbeschränkungen ohne größere Widerstände Folge leistet. Die Bereitschaft dazu kann gerade im Anfangsstadium einer Krise wie der aktuellen nur bedingt auf Einsicht gründen: Erstens bleiben die Schädigungsrisiken für Viele vorerst abstrakt (solange man nicht selbst oder ein nahestehender Mensch zu einer Risikogruppe zählt). Zweitens fehlt zunächst gesichertes Wissen über genaue Ursache-Wirkungsbeziehungen. Und drittens lässt der akute Handlungsdruck kaum Zeit für umfassende Debatten und Abwägungen. Demokratische Regierungen sind in Krisen daher stets auf das Vertrauen der BürgerInnen angewiesen, um freiheitsbeschränkende Ad-hoc-Maßnahmen umsetzen zu können (siehe WZGE-Standpunkt (K)ein Grund zur Panik?). Jenes Vertrauen in die politische Führung – und damit einhergehend die Akzeptanz freiheitsbeschränkender Maßnahmen – war hierzulande in den zurückliegenden Wochen nachweislich hoch ausgeprägt.

Inzwischen erleben wir, wie der anfängliche Konsens zunehmend erodiert. Eine Ursache dürfte im so genannten Präventionsparadox liegen: Präventive Maßnahmen mit hoher Wirkung für die Gemeinschaft bringen dem einzelnen oft einen geringen unmittelbaren Nutzen, gehen aber in der subjektiven Wahrnehmung mit hohen Zumutungen einher. Diese Zumutungen sind zunächst unabdingbar, um exponentielle Anstiege der Opferzahlen zu begrenzen („Flatten the Curve“). Stellt sich dann aber – wie wir nun sehen – tatsächlich der angestrebte Erfolg der Maßnahmen ein, wird die Notwendigkeit jener Zumutungen in Frage gestellt; bis hin zum Vorwurf des überzogenen Handelns. In der Folge kann das ursprüngliche Vertrauen in die politische Führung unter Druck geraten.

An diesem Punkt stehen wir jetzt: Einerseits gehören wir augenblicklich zu den weltweit führenden Nationen in der Covid19-Prävention. Andererseits sind die damit einhergehenden Zumutungen für viele kaum noch zu meistern – UnternehmerInnen, die bei geschlossenen Betrieben laufende Kosten bewältigen müssen, Familien zwischen Homeoffice und Homeschooling, FreiberuflerInnen ohne Einkünfte, Alleinstehende, die die soziale Isolation nicht mehr ertragen. In der Folge mehren sich die Rufe nach einer Rücknahme der Freiheitsbeschränkungen. Der Staat solle seinen Bürgern wieder mehr Mündigkeit zutrauen.

Der schrittweise Ausstieg aus dem Lockdown erscheint daher notwendig: um die schädigenden Nebenwirkungen der Präventionsmaßnahmen zu begrenzen; aber vor allem auch, um staatliche Handlungsfähigkeit zu erhalten. Die Rückkehr zu alten Freiheiten ist allerdings mit neuen Zumutungen verbunden: Wenn künftig wieder die zwischenmenschlichen Kontakte zunehmen, steigt automatisch das Infektionsrisiko. Und das Virus ist genauso gefährlich, wie zu Beginn der Krise. Insofern wird es jetzt auf die Bereitschaft und Fähigkeit zur Eigenverantwortung ankommen. Dies verlangt Selbstbegrenzungen auf zwei Ebenen:

Vom Einzelnen erfordert sie die Einhaltung von Hygienemaßnahmen, Abstandsregeln und auch die Einschränkung bestimmter Aktivitäten. Diese Maßnahmen dienen zuvorderst dem Eigenschutz. Sie sind aber weiterhin vor allem notwendig zum Schutz derer, die besonders gefährdet sind – von den Risikogruppen bis hin zu jenen, die bereits in den zurückliegenden Wochen ohne Verschnaufpause „den Laden am Laufen gehalten haben“. Diese Menschen tragen die höchsten Kosten der Lockerungen. Umso mehr haben sie den Respekt all jener verdient, die von der neuen Situation profitieren. Das Tragen von Mund-Nase-Masken ist zum Symbol dieses Respekts geworden: Sie schützt weniger die TrägerInnen, sondern vor allem die Menschen in deren Umfeld.

Bereits jetzt zeigt sich aber, dass bei der Eigenverantwortung nicht allein auf Einsicht gesetzt werden kann. Es wird weiterhin Menschen geben, die die notwendigen Maßnahmen nicht anwenden. Aus mangelndem Wissen, fehlender Kompetenz, oder eben auch, weil sie die Einschränkungen schlichtweg für überflüssig halten. Zuletzt hat dies ein Bundesliga-Spieler deutlich demonstriert. Und es besteht die Gefahr, dass jene Unvernünftigen andere zum Unterlaufen der Maßnahmen („Trittbrettfahren“) inspirieren.

Notwendig ist deshalb zusätzlich eine gemeinschaftliche Selbstbegrenzung: Die Lockerungen stehen unter dem Vorbehalt, dass die Neuinfektionen innerhalb von sieben Tagen nicht über 50 Fälle pro 100.000 Einwohner steigen. Diese Kennziffer ist der Gradmesser dafür, in welchem Maße die Menschen die neuen Freiheiten tatsächlich verantwortlich wahrnehmen – und zugleich eine Rückversicherung für alle, die nun (wieder) größeren Risiken ausgesetzt sind. Wird der Richtwert überschritten, können Freiheiten aus guten Gründen rückbeschnitten werden.

Auch diese Einschränkung stößt auf Widerstände. Angesichts einer drohenden zweiten Infektionswelle sind verbindliche Maßstäbe zur Risikosteuerung indes unverzichtbar. Mögen sie vorerst auch unvollkommen sein – bloße Kritik allein hilft nicht weiter. Sie ist eher dazu angetan, die allgemeine Bereitschaft zur Selbstbegrenzung zu unterminieren.

Umso mehr brauchen wir daher eine integrative Sicht (siehe WZGE-Standpunkt Geld oder Leben?): Der Respekt der Würde aller Menschen und die gleichzeitig objektive Betrachtung der ökonomischen und sozialen Restriktionen werden uns auch weiterhin manche Zugeständnisse abverlangen. Wir sollten diese aber weniger als Verzicht oder Zumutung sehen. Wir sollten sie stattdessen als Investitionen in unsere künftigen Handlungsspielräume begreifen.

Denn: Vorerst sind die neuen alten Freiheiten zur Bewährung ausgesetzt. Wer jetzt eine Perspektive einfordert, wer Planungssicherheit verlangt, sollte deshalb nach Kräften die (weiterhin) notwendigen Selbstbegrenzungen im eigenen Umfeld unterstützen.