Die Freiheit zum Streit in Zeiten des Krieges

Martin von Broock, Andreas Suchanek

Die Kriegsverbrechen in der Ukraine machen fassungslos. Darf man jetzt noch für russische Energieimporte Position beziehen? Darf man gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sein? Darf man die Isolation Russlands hinterfragen? Oder sind solche Positionen „unbestreitbar“ falsch? Nein. Falsch wäre es, im Krieg das Streiten einzustellen. Und gerade das verlangt uns Einiges ab. Ein Plädoyer für moralische Abrüstung – und ein Leitfaden für besseres Streiten.

Die Kriegsverbrechen in Butscha, Kramatorsk und anderen Orten in der Ukraine erhöhen den Handlungsdruck im Westen. Und sie verschärfen den Ton in der Auseinandersetzung: In der Politik mehren sich die Schuldzuweisungen für zurückliegende Fehler. Die Kritik an der energieintensiven Wirtschaft wächst. Und auch Wissenschaftler streiten über angemessene Schritte. Zugleich verstört – oder empört – uns die Nachricht, dass in Russland laut unabhängigen Umfragen 81 Prozent der Menschen den Angriffskrieg unterstützen.

Ein schwieriges Ungleichgewicht: Geschlossenheit auf Seiten des Aggressors. Streit auf Seiten jener, die sich solidarisch mit der Ukraine erklären. Das Paradoxe daran: Genau jenen Streit fürchten Autokraten wie Putin und bekämpfen ihn mit aller Macht. Denn jede Form der Kritik, jeder Wettstreit um Ideen, Fakten und deren Deutung könnte ihren unbegrenzten Machtanspruch gefährden. Zugleich liegt darin die Schwäche der Despoten: Weil sie sich mit uneingeschränkt loyalen Berater*innen umgeben, erhalten sie kein verlässliches Feedback auf ihre Entscheidungen. Negative Konsequenzen und unbequeme Wahrheiten bleiben unausgesprochen. Damit unterbinden sie die wichtigsten Voraussetzungen für Fortschritt und Erfolg: den Wettbewerb um Ideen und das Lernen aus Fehlern.

Daher sehen sich selbst kluge Diktatoren in aller Regel mit „dummen Aufklärungssystemen“ konfrontiert. In der Folge riskieren sie falsche Entscheidungen, wie der unerwartete Verlauf des russischen Angriffskriegs zeigt. Dem unterjochten Volk selbst bleibt indes kaum eine andere Wahl, als dem staatlichen Narrativ zu folgen. Denn wie sollen abweichende Meinungen entstehen, wenn der staatliche Apparat nahezu alle Informationen gleichschaltet und jegliche Kritik unter Strafe stellt?

Gegen ein solches Szenario stemmt sich das ukrainische Volk gerade mit bewundernswertem Mut. Bereits seit 2014 erleben die Menschen hautnah im eigenen Land, was russische Herrschaft bedeutet. Das erklärt die vehementen, zunehmend emotional vorgebrachten Forderungen der ukrainischen Führung an den Westen. Jene Forderungen erfahren hierzulande einerseits viel Zustimmung.  Andererseits prallen sie auf rationale Analysen von Expert*innen und Kommentator*innen, die die Konsequenzen unterschiedlicher Strategien nüchtern abwägen. Sicherlich können jene, die aus sicherer Distanz mehr Zurückhaltung, eine verfehlte Kriegsrhetorik oder gar die Pflicht zur Kapitulation fordern, die Situation der Menschen vor Ort kaum ermessen. Aber manchmal hilft auch gerade Abstand, um Überreaktionen zum Nachteil der Betroffenen zu vermeiden.

Umso mehr gilt: Freiheitliche Gesellschaften müssen den Pluralismus an Positionen zulassen und aushalten. Und zwar gerade, wenn es – wie beim militärischen Engagement oder den Energiesanktionen – um Entscheidungen mit erheblichen Konsequenzen für künftige Freiheiten geht. Die Pros und Contras müssen auf den Tisch, Argumente sich der harten Prüfung stellen. Denn in der Vergangenheit waren es oft die unbestrittenen, vermeintlich alternativlosen Positionen, die wir heute bedauern.

Allerdings darf uns der Streit nicht tiefgreifend und dauerhaft spalten. Dann werden wir handlungsunfähig. Und zwar zuerst gegenüber jenen, die am meisten auf unsere Solidarität angewiesen sind. Die Entwicklungen von EU und Nato in den zurückliegenden Jahren, die Migrationskrise, die Klimakrise und die Corona-Pandemie geben manche Beispiele für zersetzende Auseinandersetzungen. Offenbar hatte Putin genau mit der Schwäche eines zerstrittenen Westens gerechnet. Tatsächlich hat er sich verkalkuliert. Unsere Geschlossenheit war bislang unsere wirksamste Waffe; siehe WZGE-Standpunkt 2/2022.

Die Notwendigkeit zur Geschlossenheit darf allerdings nicht mit Verzicht auf Streit gleichgesetzt werden. Vielmehr kommt es gerade im Krieg darauf an, die Regeln guten Streits einzuhalten. Vor allem auch deshalb, weil wir den demokratiefeindlichen Kräften in der Krise die Resilienz unseres Systems beweisen müssen. „When they get low, we get high“, formulierte einst Michelle Obama.

Zu den Regeln guten Streits gehören einerseits die roten Linien: Kriegsverherrlichende Aussagen, Diskriminierungen und Lügen sind keine streitbaren Positionen. Sondern strafrechtlich relevant. Es geht aber auch um die nicht kodifizierbaren, kaum sanktionierbaren Voraussetzungen guten Streits. Anders formuliert: Um eine Grundhaltung des Fairplays, ohne die keine Auseinandersetzung auskommt. Das belegen die Negativbeispiele mancher Talkshows und Debatten in sozialen Medien, die bisweilen an Schlachtfelder erinnern.

Für eine Grundhaltung des Fairplays im Streit sind drei Aspekte entscheidend:  

(1) Respekt macht den Unterschied zwischen Streit und Krieg

„Demokratie lebt vom Streit, von der Diskussion um den richtigen Weg. Deshalb gehört zu ihr der Respekt vor der Meinung des anderen.“ So brachte es Richard von Weizsäcker einst auf den Punkt: Ein Mindestmaß an gegenseitiger Achtung ist die elementare Voraussetzung für offene Diskussionen. Wo kein Respekt (mehr) vorhanden ist, fehlt jegliche Grundlage für Kompromisse. Man muss sich ja mindestens zuhören, um die Position des anderen wenigstens zu kennen. Wenn diese moralische Grundbedingung erodiert, werden aus Gegnern Feinde. Und gegen Feinde zieht man in den Kampf, um sie notfalls zu zerstören.

Hier verläuft die Grenze zwischen (demokratischem Wett-)Streit und Krieg. Moral macht sich also nicht allein daran fest, welche Werte ich für mein Handeln in Anspruch nehme. Sie zeigt sich vor allem darin, inwiefern ich jene Werte auch den anderen zubillige – gerade dann, wenn wir unterschiedlicher Meinung sind. Umso bedenklicher ist es, wenn sich inzwischen sogar Wissenschaftler beleidigen, anstatt argumentativ auf die Wirksamkeit des besseren Arguments zu setzen.

(2) Unbequeme Wahrheiten aussprechen, bequeme Unwahrheiten aussortieren

Die vielbeschworene Zeitenwende macht vor allem daran fest, dass sie uns mit bislang unvorstellbaren oder verdrängten Wirklichkeiten konfrontiert. Armin Nassehi schrieb kürzlich im Spiegel, dass sich jene Wirklichkeiten eigentlich nicht geändert hätten. Aber der Krieg mache jene Bedingungen, die unsere eigene Lebensform erst ermöglichen, nun „so sichtbar, dass man es kaum aushalten kann.“ Dazu zähle etwa Deutschlands Energieabhängigkeit oder die Notwendigkeit militärischer Verteidigungsfähigkeit. Wer indes die heutigen Gewissheiten in der Vergangenheit hinterfragte, wurde mitunter als Russlandfeind oder Kriegstreiber moralisch diskreditiert.

Was wir daraus lernen sollten: Guter Streit heißt gerade nicht, Werte gegen Fakten in Stellung zu bringen. Das wäre Moralismus – und mithin das Gegenteil von Moral. Vielmehr verlangt gutes Streiten, unbequeme Wahrheiten auszusprechen und anzuhören. Gleichzeitig gilt: Wir müssen bequeme Unwahrheiten aufdecken und aussortieren. Beides geht aber nur, wenn wir Streit zulassen. Und nicht die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, wie dies Autokratien tun.

(3) Dualismen vermeiden durch Perspektivwechsel

 „Ziel eines Konfliktes oder einer Auseinandersetzung soll nicht der Sieg, sondern der Fortschritt sein", befand der französische Moralist Joseph Joubert Anfang des 19. Jahrhunderts. Die entscheidende Frage für konstruktives Streiten lautet deshalb: Wie finden Kontrahenten zueinander? Respekt zollen heißt, sich mit der Wirklichkeit der anderen auseinanderzusetzen. Genau dies verlangt das vielzitierte Prinzip der Goldenen Regel. Am konkreten Beispiel: Im Streit über die Energieimporte werden gegenwärtig die Bedürfnisse der Ukraine und die Bedarfe der europäischen Industrie dualistisch gegenübergestellt. Ein „Entweder – oder“ hilft in der aktuellen Situation aber nicht weiter: Zweifellos dürfte ein härteres Energieembargo Russlands Möglichkeiten zur Kriegsführung negativ beeinflussen – mit unklaren Nebenwirkungen. Und sicherlich würden die damit einhergehenden wirtschaftlichen Einschnitte hierzulande vor allem die Schwächsten am härtesten treffen. Ebenfalls mit offenen Folgeeffekten.

Solange die Positionen konfrontativ gegenüberstehen, besteht keine Aussicht auf Kompromisse. Ohne wechselseitige Perspektivwechsel von Gegnern und Befürwortern der Sanktionen werden sich kaum Zwischenschritte ausloten lassen. Konstruktiver Streit erfordert deshalb, nicht allein in die Stärke des eigenen Arguments zu investieren. Sondern auch konträre, mitunter unbequeme Positionen fair zu prüfen. Vor allem aber erfordert konstruktiver Streit, vorsätzliche Fouls zu unterlassen. Die liegen vor, wenn Streitende in Ermangelung sachlicher Argumente den Gegner moralisch diskreditieren. Das beginnt bereits mit generalisierten Zuschreibungen wie „der“ unfähigen Politik, „der“ unverantwortlichen Wirtschaft, „den“ unsachlichen Medien oder „den“ unfairen NGOs.   

Es fällt zugegeben schwer, angesichts der immer brutaleren Bilder aus der Ukraine manchen Streit hierzulande auszuhalten. Wir dürfen aber nicht aus dem Auge verlieren: Putin ist getrieben von der Furcht, dass sein Machtanspruch von freien Menschen bestritten werden könnte. Und die Ukraine ist getrieben von dem Wunsch, genau diese – unsere – demokratische Freiheit zu erhalten. Beides sollte uns in unseren Debatten disziplinieren.

 

 

 

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