Krieg in der Ukraine: Was sind uns unsere Werte wert?

Martin von Broock, Andreas Suchanek

Russland greift die Ukraine an. Die Entscheidung wird während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates verkündet. Das ist beispiellos. Und zeigt: Der russische Angriff richtet sich nicht nur gegen die Menschen in der Ukraine. Er richtet sich auch gegen die Regeln der globalen Gemeinschaft. Die Rücksichtslosigkeit des russischen Vorgehens fordert unsere westlichen Werte heraus. In der Reaktion müssen wir beweisen, was sie uns wert sind.

Die diplomatischen Anstrengungen der letzten Wochen waren immens. Und dennoch vergebens. Ausschlaggebend waren nicht nur die inhaltlichen Differenzen. Ganz offensichtlich bestehen auch unterschiedliche Auffassungen darüber, wie man miteinander umgehen sollte.

Wir haben das am WZGE selbst erfahren: Vor einiger Zeit unterstützten wir die Diplomatenausbildung des Auswärtigen Amtes. Die angehenden Botschafter*innen aus 18 Staaten waren sich einig: Die wichtigste Grundlage der Diplomatie ist Respekt. Auf die Frage, wie man Respekt fördert, antworteten fast alle: „durch vertrauensvolle Kooperation“. Einzig die aus Moskau entsandte Diplomatin sagte: „Wer sich in Russland Respekt verschaffen will, muss erstmal Härte zeigen.“

Mancher sieht genau darin das zentrale Versäumnis der westlichen Staaten in den letzten Jahren. Von der russischen Intervention in Georgien über die Annexion der Krim, Cyberangriffen bis hin zu offenen Geheimdienstoperationen gegen Regimekritiker im europäischen Ausland: Russland hat Schritt für Schritt die Entschlossenheit – oder Härte – des Westens ausgetestet. Und dabei wenig Gegenwind erfahren. Aus diesem Blickwinkel heraus ist der Einmarsch in die Ukraine schlichtweg eine weitere Eskalationsstufe. Mit unvorstellbarem Leid für die Menschen vor Ort.

Jenseits der Diskussion zurückliegender Versäumnisse stellt sich für den Westen jetzt die Frage: Wie sollen wir reagieren? Im Angesicht der Aggression fordert mancher nun, dass wir endlich „Realpolitik statt Moral“ ernst nehmen sollten. Und greift damit die zuletzt häufiger vernehmbare Kritik an einer wertegeleiteten Außenpolitik auf. Schließlich konfrontiere uns Russland ja gerade mit der unbequemen Wahrheit, dass es seinen Interessen mit äußerster Entschlossenheit Vorrang vor unseren Ideen von Respekt und Zusammenarbeit einräumt.

Das lässt sich kaum leugnen. Dennoch wäre es falsch, daraus spiegelbildlich die Preisgabe unserer Werte zugunsten einer harten Interessenpolitik abzuleiten. Genau dies würde Russland in die Hände spielen. Denn der Krieg in der Ukraine ist auch ein Stresstest für das System Demokratie. Unsere Reaktion darauf kann künftige Grenzverletzungen abschrecken. Oder motivieren.

Worauf es jetzt ankommt:

Unsere Chance: Rückkehr zur Geschlossenheit

In der Reaktion auf Russlands Angriff rückt die internationale Staatengemeinschaft wieder zusammen. Auch in vielen nationalen Parlamenten führt die Aggression zu geschlossenen Reaktionen. Es ist Russlands Angriff auf unsere geteilten Werte und Prinzipien, der uns in Deutschland, in Europa und darüber hinaus plötzlich wieder stärker verbindet. Denn wir wissen aus Erfahrung: Die Weltgemeinschaft braucht Kooperation, gerade mit Blick auf die globalen Herausforderungen. Und diese Kooperation verlangt, dass wir unsere Interessenkonflikte nur mit unseren Ideen von Würde, Freiheit und Rechtstaatlichkeit friedlich und konstruktiv austragen können. Darin liegt unsere Stärke. Und weil wir jene Werte teilen, können wir Russland (und auch China) mit unseren Verbündeten trotz Vielfalt in Einheit entgegentreten. Deshalb setzen Autokratien alles daran, unsere Geschlossenheit aufzubrechen. Und suchen ihre Verbündeten in populistischen Präsidenten und Parteien.

Unsere Herausforderung: Entschlossenheit im Handeln

Es reicht aber nicht aus, unsere gemeinsamen Werte nur zu betonen. Die Friedensdividende ist aufgebraucht, wie der Historiker Herfried Münkler nüchtern analysiert. Wir müssen Russland und allen anderen Autokratien zeigen, dass uns unsere Werte tatsächlich etwas wert sind. Das setzt unmittelbar die Bereitschaft zu harten wirtschaftlichen Sanktionen voraus. Auch dann, wenn sie mit Nachteilen für uns verbunden sind. Wenn wir uns dieses Mindestmaß an Härte selbst nicht zumuten, können wir von Autokratien erst recht keinen Respekt erwarten. Vor allem aber müssen wir analog zu Russland (und China) unsere Perspektive von kurzfristiger Wettbewerbsfähigkeit hin zu langfristiger Interessensicherung umstellen. Ganz konkret: Wenn wir heute das Prinzip der territorialen Integrität wegen unseres Energiebedarfs relativieren, könnte uns das schon morgen den Zugang zu dringend benötigten Mikrochips kosten. Denn mit Blick auf Taiwan – das immerhin 60% der Chipproduktion verantwortet – wird China sehr genau beobachten, wie entschlossen der Westen im aktuellen Konflikt handelt. Und wie er sich für künftige Krisen wappnet. Ein Neustart in der transatlantischen Bündnispolitik und der Aufbruch in eine europäische Sicherheits- und Außenpolitik sind dafür die Voraussetzungen.

Unsere Verpflichtung: Respekt wahren

Wie auch immer sich die Lage zuspitzt: Ein Mindestmaß an Respekt für Russland bleibt die Voraussetzung dafür, mit Russland im Gespräch zu bleiben. Und darauf wird es ankommen. Denn eine vollständige Abschottung würde jede Aussicht auf eine Konfliktlösung zunichtemachen. Innerhalb Russlands bliebe die Deutungshoheit vollständig der russischen Propaganda überlassen. Vor allem aber wären alle gemäßigten Stimmen und Kritiker im Land ihrem eigenen Schicksal überlassen. Und ohne die progressiven Kräfte im Land sind keine Fortschritte für das Land zu erwarten. Parallel zu harten Sanktionen müssen wir deshalb Gesprächskanäle offen- und unsere Dialogbereitschaft aufrechterhalten. Die gewachsenen Austauschbeziehungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur können wertvolle Beiträge zur Entschärfung des Konflikts leisten. Vor allem aber sind sie unser einziger Zugang zu Daten und Fakten abseits offizieller Desinformationskampagnen.

Mit einer geschlossenen, entschlossenen und respektvollen Reaktion kann und sollte der Westen auf drei Ebenen Signale setzen: Zuallererst müssen wir uns innerhalb der demokratischen Gemeinschaft wieder über den Wert der Freiheit vergewissern und für ihren Erhalt Kosten in Kauf nehmen. Dabei sollten wir nicht aus dem Auge verlieren: Es ist stets auch die Furcht vor der Anziehungskraft freiheitlicher Ideen (siehe Wahlen in Belarus), die Autokratien in ihrem Handeln antreibt. Ob unser Verständnis von Härte Russland zu einer Kurskorrektur bewegt, ist offen. Sicher ist dagegen: Ohne Kurskorrektur unsererseits könnte nicht nur Russland zu weiteren Eskalationsschritten motiviert werden. Die Fortsetzung des Dialogs ist deshalb unverzichtbar. Vor allem aber müssen wir uns vergegenwärtigen, dass in der Ukraine in diesem Augenblick Menschen für ihren Wunsch und unsere (!) Werte von Freiheit und Demokratie ihr Leben opfern. Ihnen schulden wir wenigstens das klare Signal, dass auch uns diese Werte etwas wert sind.

 

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