Geld oder Leben?

Karl Homann

Wir brauchen eine Debatte über die Kriterien, an denen wir die anstehenden Entscheidungen in der Corona-Krise ausrichten. Wenn wir dabei allerdings die falschen Fragen stellen, kommen wir zwangsläufig zu problematischen Antworten.

„Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden, mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstands massiv und nachhaltig erodiert?“ Diese Frage wirft der erfolgreiche Finanzmanager Alexander Dibelius im Handelsblatt-Interview auf. In eine ähnliche Richtung deuten Forderungen wie: „Die Lösungen dürfen nicht schlimmer sein als das Problem selbst“, wie sie etwa Donald Trump geteilt hat.  

Im öffentlichen Diskurs wird die Problematik, die die Corona-Krise mit sich bringt, derzeit zunehmend als Konflikt zwischen zwei Werten diskutiert: Wirtschaft oder Gesundheit, plakativ: Geld oder Leben. Ein solcher Dualismus mit zwei eigenständigen, nicht aufeinander oder auf eine gemeinsame Wurzel zurückführbaren Werten, ist im öffentlichen Diskurs und leider auch in der Wissenschaft weit verbreitet. Dann wird ein Wert als vorrangig betrachtet zu Lasten des anderen; etwa das Leben vieler einzelner, das wichtiger sei als die Wirtschaft, oder umgekehrt eine funktionierende Wirtschaft, ohne die das Leben aller immer weniger lebenswert würde.

Aus einer solchen Konfrontation resultieren jedoch Probleme: Jeder sieht die andere Seite als Gegner, deren Gewinn der eigene Verlust ist. Diskutiert, und letztlich entschieden wird dann auf Grundlage von Macht, also der größeren medialen Aufmerksamkeit oder der stärkeren Lobby. Solchem Denken liegt das Nullsummenparadigma zu Grunde, nach dem ein „Mehr“ des einen Wertes notwendigerweise ein „Weniger“ beim anderen Wert bedeutet. Ein solches Denken führt zu unbefriedigenden Lösungen und zu gesellschaftlichen Spaltungen.

Die Corona-Krise lässt nun überdeutlich werden, dass ein Denken in solch dualistischen Bahnen, im Entweder–Oder, wie das der Titel widerspiegelt, eine sinnvolle Lösung der Probleme verhindert:

So wird derjenige, der für den Vorrang der Wirtschaft votiert, alles tun wollen, um diese Wirtschaft schnell wieder in Gang zu bringen. Solange es keinen Impfstoff gibt, ist er womöglich bereit, eine mehr oder weniger ungebremste Durchseuchung der Bevölkerung zur schnellen Erreichung der Herdenimmunität zuzulassen oder gar anzustreben, weil nur diese zu einer nachhaltigen Überwindung der Krise führen kann. Ziel ist es, einen anhaltenden Konjunktureinbruch oder gar eine lange Wirtschaftsdepression, die schlimmer sein könnte als die große Krise 1929, zu vermeiden. Klar aber ist, dass der Preis für diese Strategie hunderttausende Tote wären. Damit widerspricht diese Strategie grundlegenden moralischen Überzeugungen der Menschen und ist daher nicht akzeptabel.

Wer dagegen unter Berufung auf Moral und Ethik von einem unbedingten Vorrang des Menschenrechts auf Leben überzeugt ist und dafür sämtliche verfügbaren und zielführenden Maßnahmen bis hin zu dauerhaften strikten Ausgangssperren für den Schutz des Lebens einsetzen will, müsste eine lange wirtschaftliche Depression in Kauf nehmen, von der sich die Welt über Jahrzehnte nicht erholen würde. Auch dem ärgsten Kapitalismuskritiker kann an der Corona-Krise deutlich werden, dass das gute Leben und letztlich auch das Leben als solches ohne eine leistungsfähige Wirtschaft nicht zu haben ist.

Die „Lösung“, die sich im öffentlichen Diskurs und in der Politik weitgehend durchgesetzt hat, sind die physischen Kontaktbeschränkungen in unterschiedlich strikten Varianten. Grund ist die Hoffnung, dass sich auf diese Weise die Kurve der Infektionen zeitlich so abflachen lässt, dass das Gesundheitssystem auch den schweren Fällen die angemessene medizinische Behandlung zukommen lassen kann und Ärzten wie Betroffenen das Triagieren erspart bleibt. Wie wir sehen, zahlt aber auch diese Strategie einen hohen Preis: Das Zusammensein mit Familie und Freunden wird drastisch eingeschränkt, Alte, Kranke und Sterbende werden isoliert, (Aus-)Bildung von der Kita bis zur Universität entfallen zum größten Teil, große Teile des kulturellen Lebens kommen zum Erliegen, zivilgesellschaftliche und politische Versammlungen werden verboten, und die ökonomischen Schäden wie insbesondere der millionenfache Verlust von Arbeitsplätzen und damit von Einkommen breiter Schichten, tausendfache Insolvenzen insbesondere von Einzelunternehmen sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen, zunehmende Handlungsunfähigkeit des Staates infolge dramatisch sinkender Steuereinnahmen, was unter anderem auch die Felder Sicherheit, Sozialpolitik und Gesundheitssystem treffen würde, müssen in Kauf genommen werden. Daraus entstehen dann gesellschaftliche Konflikte bis hin zu sozialen und politischen Verwerfungen und ein großflächiger Verlust von Vertrauen in das Gemeinwesen und seine Führungspersönlichkeiten. Auch diese Strategie ist in einer Demokratie wohl kaum auf Dauer durchzuhalten, so dass aktuell und mit Fug und Recht über einen wissenschaftlich gestützten, selektiven, sukzessiven und kontrollierten „Ausstieg“ aus den aktuellen Beschränkungen diskutiert wird.

Diese skizzierte „Exit-Strategie“ scheint auf den ersten Blick vernünftig zu sein und wird von der Gesellschaft gegenwärtig mit überwältigender Mehrheit akzeptiert. Der breite Konsens könnte allerdings erodieren: Wenn aktuelle und künftige Beschränkungen im Mindset des Dualismus – als Wahl zwischen Menschlichkeit oder Ökonomie – begründet und vermittelt werden, besteht die Gefahr, dass der weitere Prozess immer mehr unter die Räder eines – unter Umständen ideologisch eingefärbten – Machtspiels gerät. Auch das dürfte auf Dauer viel Vertrauen kosten.

Ich schlage daher vor, den Prozess des Ausstiegs anders zu denken, anders zu kommunizieren und anders zu gestalten.

Das erfordert die Überwindung des dualistischen Denkens. Die Corona-Krise bietet – nicht zuletzt wegen der möglichen unmittelbaren persönlichen Betroffenheit der Bürger – eine gute, vielleicht eine einmalige Gelegenheit für die Einsicht,  dass man die vielen verschiedenen Dimensionen des Lebens und die entsprechenden Funktionssysteme nicht als Gegensätze, sondern immer in ihrem systematischen Zusammenhang sehen muss. Dieser Zusammenhang wird durch den Grundsatz gestiftet, dass alles letztlich dem Wohlergehen des Menschen, aller Menschen dient und zu dienen hat. Dieses letzte Ziel wird klassisch als Eudaimonia, Glück, und als „gutes Leben“ bestimmt und, modern ausbuchstabiert, als Freiheit und Würde jedes einzelnen und als Solidarität. In moderner Formulierung geht es um das „gelingende Leben“ aller. Geld und Leben, Ökonomie und Ethik dienen beide und gleichermaßen diesem einen letzten Ziel, wenn auch in verschiedenen Dimensionen und ausdifferenzierten Funktionssystemen. Analog zur Rede des Neuen Testaments über den Sabbat (Mk 2,27) gesagt:  Moral und Ökonomie sind für den Menschen gemacht, und nicht der Mensch für Moral und Ökonomie. Das Leben als solches ist – auch nach dem Grundgesetz – nicht das höchste Gut, dem alles unterzuordnen wäre; diesen Rang hat nur die Würde jedes einzelnen. Umgekehrt stellt materieller Wohlstand allein kein erstrebenswertes Ziel dar. Moral und Ökonomie sind keine „autonomen“ Werte, sondern „verschränkte und sich bedingende Momente“ (G. W. F. Hegel: Rechtsphilosophie § 286) eines guten Lebens. Gestützt auf Intuitionen dreht sich die wissenschaftliche und politische Diskussion dann um Abwägen, um Verhältnismäßigkeit und Ausgleich sowie um die Wechselwirkungen der verschiedenen Dimensionen. Das Ringen um den richtigen Weg ist dann kein Machtkampf, sondern wird geleitet von dem Gedanken der Förderung des Wohls aller Menschen unter den gegebenen realen Bedingungen. Hier spielen dann gute Argumente die größere Rolle gegenüber ideologischen Voreingenommenheiten und persönlichen Profilierungen.

Noch mal anders: Menschlichkeit und Wirtschaft sind nicht zwei selbstevidente eigenständige „Werte“, die systematisch im Konflikt stehen. Menschlichkeit und Wirtschaft bedingen, stützen und fördern sich gegenseitig; Menschlichkeit braucht eine funktionierende Wirtschaft, und eine funktionierende Wirtschaft braucht Menschlichkeit.

Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass sich diese antidualistische Sicht nicht mit dem verbreiteten Verständnis von der Unbedingtheit von Moral und Ethik verträgt. Das ist jedoch falsch. Eine moderne Ethik kann sich weder allein im Begründen und Postulieren von ethischen Prinzipien oder Idealen erschöpfen, noch kann sich Ethik auf wissenschaftlichen Sachzwang allein verlassen, ob man diesen nun bei den Epidemiologen oder den Ökonomen zu finden glaubt. Moderne Ethik gibt keine konkreten Handlungsanweisungen wie im Verkehr ein Navigationssystem. Sie vermittelt stattdessen Orientierung – wie ein Kompass. Sie zeigt nur die Richtung an, die man unter den jeweils verschiedenen konkreten Bedingungen nicht aus dem Auge verlieren darf. Die konkreten Wege und Umwege, Methoden – das Wort Methode stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Umweg“ – müssen von politischer und unternehmerischer Führung situationsgerecht entschieden und kommuniziert werden.

Für die notwendige Verständigung über Kriterien, die unsere Entscheidungen im weiteren Verlauf der Corona-Krise leiten sollen, bedeutet dies: Es ist Aufgabe von Führung in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die verschiedenen Dimensionen eines guten Lebens in Diskursen, Entscheidungsprozessen und bei der Vermittlung zu integrieren. Das bedeutet: Normative Prinzipien (Leben) und empirische Realisierungsbedingungen (Geld) sind zusammen zu denken. Sollen setzt Können voraus. Wer Sollen und Können gegeneinander in Stellung bringt, schlägt die falsche Richtung ein. Die Frage „Geld oder Leben“ lässt sich in dieser Zuspitzung nicht sinnvoll beantworten. Insofern sollten wir sie besser gar nicht stellen und stattdessen unsere Energie in die richtige Richtung lenken.