Martin von Broock, Andreas Suchanek
Vieles wird teurer. Aber eines bleibt billig: Die Empörung, verbunden mit Schuldzuweisungen an andere. Damit lässt sich über alte und neue Medien sogar vorzüglich Geld verdienen. Allerdings auf Kosten dessen, was wir gerade so dringend brauchen: unsere Fähigkeit zu Problemlösungen und Fortschritt. Denn im Gegensatz zu Kritik fördert Empörung selten konstruktiven Streit. Sie blockiert ihn meist. Wo wir scheitern – und wie wir es besser machen können.
Zugegeben: Es gibt aktuell zahlreiche Themen mit Empörungspotenzial – von der Ampel bis zum Zugverkehr. Statt Fortschritten erleben wir in vielen Bereichen eher Stagnation oder sogar Rückschritte. Das beunruhigt viele. Am meisten sorgen sich die Menschen inzwischen über einen möglichen wirtschaftlichen Abstieg. Damit einher geht ein sinkendes Vertrauen in demokratische Institutionen – und mehr Zuspruch für extremistische Positionen, auch in der Mitte der Gesellschaft.
Wie kommen wir aus der Abwärtsspirale? Die einhellige Mahnung von Expert*innen: Der Staat müsse mehr Probleme besser und schneller lösen, um Vertrauen zurückzugewinnen. Ideal wäre also ein „Problemlösungsbeschleunigungsgesetz“. Einfach mal machen, umsetzen, durchziehen.
Allerdings stehen wir dabei immer wieder vor folgendem Dilemma: Menschen empören sich zwar über den Stillstand. Sie empören sich aber genauso über Veränderungen und damit verbundene Zumutungen. Der Status quo ist skandalös, meinen die einen. Vorgeschlagene Eingriffe sind noch skandalöser, sagen andere. Kaum ein politischer Lösungsansatz, egal von welcher Seite, der nicht mit einer „von starken Emotionen begleiteten Entrüstung als Reaktion auf Verstöße gegen moralische Konventionen“ einhergeht. So die Definition von Empörung.
Damit muss eine Demokratie zwar grundsätzlich klarkommen. Schließlich ist es gerade der Wettstreit unterschiedlicher Meinungen und Perspektiven, der die Überlegenheit freiheitlicher Gesellschaften gegenüber autoritären Gesellschaften ausmacht (siehe WZGE-Standpunkt „Die Freiheit zum Streiten in Zeiten des Krieges“). Empörung kann in diesem Wettstreit zweifellos wichtig sein, wenn sie auf Probleme hinweist und Menschen aktiviert. Empörung wird aber selbst zum Problem, wenn sie Debatten manipuliert und Diskussionen blockiert. Es sind vor allem drei Aspekte der Empörung, die einen konstruktiven Wettstreit um rasche und gute Lösungen gefährden:
- Empörung personalisiert – und lenkt vom Problem ab
Ob Bundestagsdebatte, Talkshow, Online-Forum oder innerbetriebliche Diskussion: Kritik setzt immer weniger bei bestreitbaren Analysen oder inhaltlichen Positionen an. Stattdessen sind zunehmend die Personen oder Gruppen hinter den Positionen Ziel von Empörungen: wegen einer unterstellten Haltung, einer zugeschriebenen Meinung oder eines behaupteten Unvermögens. Nicht selten genügt ein einzelner Satz oder eine Geste, oft völlig aus dem Zusammenhang gerissen und unscharf zitiert, um damit Menschen, Organisationen oder Unternehmen „zweifelsfrei“ ein umfassendes Weltbild zuzuschreiben und sie darauf festzulegen.
Problematisch für Fortschritte: Je mehr Personalisierungen in der öffentlichen Debatte, umso weniger Raum bleibt für die Diskussion der eigentlichen Probleme mit ihren Fakten, Zusammenhängen und möglichen Lösungen. Und umso schwieriger wird es, im Sinne des Joint Fact Findings – einem wesentlichen Schritt zielorientierter Verhandlungen – geteiltes Wissen als Voraussetzung gemeinsamer Lösungen aufzubauen.
- Empörung moralisiert – und blockiert so Verständigung
Empörung beruft sich meist auf wichtige moralische Ideale oder Werte, etwa Gerechtigkeit, Solidarität oder Toleranz. Wenn Empörte ihre Positionen aber radikal auf solchen Werten begründen und dafür die Wirklichkeit mit ihren Dilemmata, Knappheiten und (eigenen) Ungewissheiten ausblenden, agieren sie nicht moralisch. Sie handeln dann moralistisch. Empörte erwarten von anderen „unbedingte“ Handlungen, Positionierungen oder Distanzierungen: sofort und konsequent, ungeachtet tatsächlicher Handlungsspielräume und möglicher Folgen.
Problematisch für Fortschritte: Wer sich moralisierend empört, signalisiert anderen: Ich sehe keine Notwendigkeit mich auf dich und deine Umstände einzulassen. Schließlich habe ich die gewichtigeren Gründe (vermeintlich) auf meiner Seite. Aus der ergebnisoffenen Debatte wird so eine Einbahnstraße – Entgegenkommen ist ausgeschlossen. Damit erscheint jede Aussicht auf Verständigung aussichtslos. Und jeder Dialog zwecklos.
- Empörung spaltet – und verhindert so Kompromisse
Empörung operiert meist in einem Schwarz-Weiß-Modus: Wer nicht dafür ist, ist dagegen, Freund oder Feind, Vertrauter oder Verräter. Empörung eint nach innen und verteidigt nach außen. Sie ist damit Nährboden für die oft kritisierten Blasen. Und gleichzeitig eine Triebkraft für gesellschaftliche Spaltungen. Denn im Schwarz-Weiß-Modus kann man sich entweder nur behaupten oder nur verlieren. Empörung schließt daher jegliche Vorstellung von gegenseitigen Vorteilen aus. Und damit die Möglichkeit des Kompromisses, in dem beide Seiten gewinnen können – sofern sie wechselseitig Zugeständnisse machen.
Problematisch für Fortschritte: Wenn wir tiefgreifende gesellschaftlichen Probleme schneller und besser lösen wollen, brauchen wir bei allem notwendigen Streit letztlich mehr und nicht weniger Kooperation. Vor allem brauchen wir Allianzen über bisherige Gräben und Blasen hinweg. Das wird kaum gelingen, je mehr die „innere“ Empörung die Möglichkeit des Kompromisses negiert oder zerstört.
So sehr also deutliche Kritik an vielen Zuständen notwendig ist: Mit noch mehr Empörung werden wir noch weniger lösen. Wo ansetzen? Am besten dort, wo wir die Kontrolle haben: bei uns selbst. Jede*r weiß, wie befreiend eine empörende Katharsis sein kann – in der Hotline, einem Chat oder einem Meeting, gemeinsam mit anderen gegen andere. Und gerade digitale Medien massieren stetig unsere Triggerpunkte. Allerdings: Kaum jemand möchte selbst zur Zielscheibe von Empörung werden. Die wenigsten wollen persönlich und mit dem eigenen Umfeld moralisierenden Angriffen ausgesetzt sein.
Im Sinne der Goldenen Regel ist es daher bei jeder Kritik nicht nur klug für die Problemlösung, sondern auch geboten für die eigene Respekterwartung, einen Perspektivwechsel zu wagen. „Walk a mile in my shoes“ sang Joe South 1970: Welche Handlungsspielräume und Grenzen sollten wir anderen fairerweise zugestehen? Vor allem verlangt Respekt, niemanden ausschließlich auf eine Rolle oder Funktion zu reduzieren. Wer selbst menschlich behandelt werden möchte, sollte im Gegenzug bei jeder Kritik stets den Menschen hinter der Politikerin, dem Vorgesetzten, der Kollegin, dem Zugbegleiter oder der Servicekraft im Blick behalten. Im Gegensatz zu billiger Empörung kostet das meist einige Anstrengungen. Aber wir sollten uns diese Selbstbegrenzung nicht nur selbst wert sein. Vor allem sollten wir sie als Investition sehen, um gemeinsam mehr Fortschritte zu erzielen.
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