Martin von Broock, Andreas Suchanek
Ideenlos, inhaltsleer und vor allem: schlecht geführt – kurz vor der Entscheidung ziehen viele ein ernüchterndes Fazit des Wahlkampfs. Zu Recht? Tatsächlich offenbaren die zurückliegenden Monate grundlegende Dilemmata, mit denen sich Führende konfrontiert sehen. Wir zeigen an drei Punkten auf, dass enttäuschte Erwartungen auch etwas mit den Erwartungen selbst zu tun haben können.
Selten zuvor war der Ausgang einer Bundestagswahl so offen. Erstmals seit 1949 geht keine Partei mit einem Amtsbonus ins Rennen. Nach aktueller Datenlage erscheinen sechs Regierungskonstellationen möglich. Dabei sind die relativen Abstände zwischen den Parteien nicht sehr groß. Auf die Wahlbeteiligung könnte dies positive Wirkungen entfalten. Laut einer Allensbach-Umfrage nehmen sich 87 Prozent der Wahlberechtigten vor, wählen zu gehen. Zugleich sind 40 Prozent noch unentschlossen, wem sie ihr Votum geben. Die volatile Situation bietet (mindestens) zwei Interpretationen an:
Den Bürger*innen eröffnet sie Auswahlmöglichkeiten. Und die sind die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Freiheiten. Das unterscheidet echte demokratische Wettbewerbe von „simulierten“ Wahlen, wie wir sie gerade in Russland erlebt haben. Aber auch hierzulande sind Auswahlmöglichkeiten keine Selbstverständlichkeit. Noch in der letzten Bundestagswahl wies der Historiker Heinrich August Winkler auf die Gefahr „alternativloser“ Bündnisse für die parlamentarische Demokratie hin. Im aktuellen Wettstreit können Wähler*innen dagegen vergleichsweise viele Konstellationen mit ihrer Stimme wirksam beeinflussen. Damit steigt der Anreiz, sich an der Wahl zu beteiligen.
Den politischen Spitzenkandidat*innen wird der offene Wahlausgang dagegen als Führungsversagen angerechnet. In einem hochpersonalisierten Wettkampf hätten sie die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht. Kommentatoren klassischer Medien sprechen vom Wegducken, Ideenlosigkeit, einer „Qual der Wahl“ oder auch vom „zweitklassigen Personal“. Die Kritik macht sich insbesondere an zwei Punkten fest: Erstens seien allen vermeidbare Fehler unterlaufen. Zweitens sei es offenbar niemandem gelungen, eine Richtung zu vermitteln und mit einer positiven Zukunftserzählung mehr Menschen zu mobilisieren.
Der Punkt „vermeidbare Fehler“ ist kaum bestreitbar. Unpräzise Angaben, unangemessene Reaktionen und unaufgeklärte Konflikte sind faktisch dokumentiert. Wer bei Anderen für Vertrauen in die eigene Führungskompetenz wirbt, muss sich an den eigenen Fehlern messen lassen. Sachliche Kritik ist in diesen Fällen nicht nur erlaubt. Mit Blick auf das angestrebte Amt und die damit einhergehende Verantwortung ist sie sogar geboten. Insofern sind auch Diskussionen über personelle Alternativen legitim. Die Messlatte sollte dabei allerdings nicht zu hoch gelegt werden. Denn: Niemand macht keine Fehler. Nicht umsonst wird allerorts eine bessere Fehlerkultur eingefordert. Wichtig ist daher zuvorderst, wie Führende mit ihren Fehlern umgehen.
Nicht so einfach abzuhaken ist dagegen der Punkt „fehlende Mobilisierungskompetenz“. Natürlich ist Überzeugungskraft eine Fähigkeit, die nicht allen gleichermaßen gegeben ist. Dennoch würde es zu kurz greifen, beim Thema Mobilisierung allein auf individuelles Talent abzustellen. De facto sind Führende stets eingebettet in ein enges Geflecht aus Bedingungen, die sie selbst nur begrenzt beeinflussen können. Im politischen Wettbewerb sind das nach innen etwa die Parteistatuten, das Programm oder auch Parteikollegen und Personal. Begrenzt wird das individuelle „Können“ insbesondere durch die Bedingungen des politischen Wettbewerbs. Erwartungen an Entscheider*innen und den faktischen Möglichkeiten, politische Entscheidungen herbeizuführen und erfolgreich umzusetzen.
Es sind vor allem drei Widersprüche, die der Forderung nach einem breiter mobilisierenden Narrativ entgegenstehen.
- Mehr klare Richtung – und dabei alle mitnehmen?
Viele Menschen wünschen sich klarere Richtungsbekenntnisse von Führenden. Allerdings driften die Meinungen nach der richtigen Richtung zunehmend auseinander. John Rawls sprach bereits Anfang der Neunziger Jahre vom „Faktum des Pluralismus“. Inzwischen sei unsere Gesellschaft so stark ausdifferenziert, dass ein Masterplan für alle einfach unmöglich erscheint, sagt Armin Nassehi. Heißt: Es wird immer schwieriger, möglichst viele Menschen mit einem einzigen Angebot zu erreichen. Daher werden viele Debatten im Wahlkampfmodus nur noch zugespitzt entlang von Grundsatzpositionen geführt: Braucht besserer Klimaschutz mehr Freiheit oder mehr Ordnung? Braucht eine bessere soziale Absicherung mehr Leistungsanreize oder mehr Umverteilung? Braucht globale Stabilität mehr Engagement oder mehr Zurückhaltung in der deutschen Außenpolitik? Je konkreter eine Position dagegen ausgeführt wird, umso weniger inklusiv ist sie. Und je mehr differenzierte Positionen angeboten werden, umso weniger lassen sie sich widerspruchsfrei umsetzen.
- Mehr Mut zur Ehrlichkeit – aber ohne unbequeme Wahrheiten?
Kritisiert wird weiterhin der fehlende Mut, notwendige Veränderungen im Wahlkampf klar und deutlich zu benennen. Immerhin sprechen sich laut verschiedener Studien immer mehr Menschen für ambitionierteren Klimaschutz und besseren sozialen Ausgleich aus. Jenseits solcher abstrakten Präferenzen zeigt die konkrete Wahlkampfpraxis dagegen, dass Mut zur Ehrlichkeit nicht unbedingt belohnt wird. „Niemand wird mehr gehasst als derjenige, der die Wahrheit sagt“ (Platon, 335 v.Chr.); siehe WZGE-Standpunkt Anständig streiten. Diese Erfahrung machte etwa Angela Merkel im Jahr 2005. Damals trat sie im Wettstreit mit Gerhard Schröder für mehr Ehrlichkeit im Wahlkampf ein und sprach offen über die zerrütteten Staatsfinanzen. Der zunächst komfortable Vorsprung der CDU schmolz daraufhin von 23 Punkten auf gerade noch einen Punkt am Wahlabend. De facto entfaltet die Aussprache unbequemer Wahrheiten immer auch Empörungspotenziale. Je mehr es bei gemeinwohlorientierten Zielen um individuelle Zumutungen geht, umso geringer die allgemeine Zustimmung. Der zurückliegende Wahlkampf hat dafür manches Beispiel geliefert. Man denke etwa an die Auseinandersetzung um die Effekte der CO2-Abgabe auf den Spritpreis. - Mehr rote Linien – und anschließend trotzdem kooperieren?
Schließlich werden immer wieder klar(er)e Abgrenzungen von den Spitzenkandidat*innen gegenüber ihren Wettbewerber*innen eingefordert. Wählende möchten wissen, worauf sie sich nach der Wahl verlassen können. Dieser Anspruch ist nachvollziehbar und berechtigt. Zugleich stellt er die Parteien vor ein Dilemma: Je mehr rote Linien alle Parteien vor der Wahl ziehen, umso geringer ist der Spielraum für mögliche Koalitionen nach der Wahl. Aus der gemeinsamen Wettbewerbsperspektive droht dann entweder eine Situation, in der alle verlieren. Man stelle sich vor, alle Parteien entschieden, lieber gar nicht zu regieren als rote Linien aufzugeben. Oder die Parteien müssen ihre roten Linien – und damit ihre Wahlversprechen – auf Kosten der eigenen Glaubwürdigkeit wieder kassieren. Insofern ist das Abwägen zwischen dem Aufbau taktischer Verhandlungsmasse und der eigenen Integrität eine schwierige Gratwanderung. Kompromisse sind unumgänglich. Zu klären ist indes, welche Kompromisse nicht mehr akzeptabel sind. Rote Linien sind fraglos dort zu ziehen, wo andere das demokratische Spielfeld schädigen. Es ist daher zu begrüßen, dass die AfD in möglichen Regierungskoalitionen für alle Parteien faktisch keine Rolle spielt.
Im Lichte dieser Dilemmata ist zu hinterfragen, ob die Kritik an den Parteien und ihrem Führungspersonal – neben unbestrittenen Fehlern – nicht auf ein ganz anderes Problem verweist: Sind die offenen Mehrheitsverhältnisse allein eine Folge fehlender Kompetenz? Oder führt die wachsende (und auch eingeforderte!) Vielfalt individueller Lebensentwürfe zu widersprüchlichen Erwartungen an eine starke, durchgreifende und dennoch integrative Führung? Um Missverständnisse zu vermeiden: Offene Kritik ist gleichermaßen Voraussetzung und Folge funktionierender Demokratien. Zugleich funktionieren Demokratien nur dann, wenn Kritik von fairen Erwartungen ausgeht. Das setzt erstens die Orientierung am (politisch) Machbaren voraus und zweitens einen respektvollen Streit über Alternativen.
Mit Blick auf den letzten Punkt haben alle Kandidat*innen im Wahlkampf einen Fehler jedenfalls nicht gemacht: Zwar hat die Personalisierung des Wahlkampfs zu mitunter harten Schlagabtäuschen geführt. Die zwischenzeitlich befürchteten Schlammschlachten unter den Kandidat*innen sind indessen ausgeblieben. Von einer „Trumpisierung“ des Wahlkampfs sind wir zum Glück weit entfernt. Diesen Umstand sollten wir auf der Haben-Seite des Spitzenpersonals verbuchen.