Martin von Broock, Andreas Suchanek
In zwei Phasen sind Demokratien besonders verletzlich: Im Umfeld von Wahlen und in Krisenzeiten. In Deutschland stehen 2021 sechs Landtagswahlen und die Bundestagswahl an – inmitten der Corona-Krise. Die Ereignisse in den USA zeigen: Gerade jetzt kommt es darauf an, anständig (im doppelten Sinne!) zu streiten. Wir geben drei Orientierungen aus ethischer Perspektive.
Nach einer aktuellen Studie ist das Vertrauen der Menschen in ihre Regierungen seit Januar 2020 weltweit in 18 von 28 Staaten gestiegen. Dieses Ergebnis mag manche überraschen. Denn unter den Herausforderungen der Pandemie gerät der politische Diskurs zunehmend unter Druck. Es wird mehr und zunehmend heftiger gestritten. Für die Stabilität der Demokratie erweist sich indes nicht der Streit selbst als Problem. Sondern vielmehr die Art und Weise, wie er geführt werden kann.
Warum wir (Wett-)Streit brauchen
Demokratie eröffnet den Menschen vielfältige Freiheiten. Sie ermöglicht die Koexistenz diverser Weltanschauungen und Interessen. Möglich wird dies durch ein differenziertes Zusammenspiel aus Kooperation und Wettbewerb: Bürger*innen haben die Wahl zwischen unterschiedlichen Ideen für das gesellschaftliche Miteinander. Wer als politischer Akteur jene Ideen gestalten und umsetzen will, muss dafür Mehrheiten gewinnen. Politischer Wettstreit ist mithin kein Kollateralschaden oder notwendiges Übel der Demokratie. Vielmehr entfaltet er als effektives Mittel (nicht als Selbstzweck!) ethische Qualitäten. Denn der Wettstreit setzt politische Gestalter*innen immer wieder aufs Neue unter Druck, nach besseren gemeinschaftlichen Lösungen zu streben, sich dabei an den Interessen der Bürger*innen auszurichten und sie als Kooperationspartner*innen zu gewinnen. Ohne Wettstreit, ohne die Wahl zwischen Alternativen, ohne das oft anstrengende und zähe Ringen um gute Entscheidungen könnten wir „schlechte“ Politik weder erkennen, noch sanktionieren. Vor allem aber würden wir den Antrieb verringern, uns den gemeinschaftlichen Herausforderungen stellen zu müssen. In nicht-demokratischen Systemen wird Streit unterbunden – vor allem dort, wo er dringend nötig wäre.
Warum Streit eine Haltung braucht
Allerdings dient nicht jede Form des politischen Wettstreits der Demokratie. Konstruktive Auseinandersetzungen brauchen eine gemeinsame Basis. Gemeint sind zuvorderst formale, verbindliche Ordnungsmechanismen; von allgemeinen Grundrechten bis zu „technischen“ Fragen des Wettbewerbs. Solche gemeinsamen Spielregeln sind zwingend notwendig. Allein sind sie aber nicht hinreichend. Denn der Wettbewerb wird auch maßgeblich über das Spielverständnis geprägt, mit dem die Protagonisten innerhalb der Regeln streiten. Denn: Demokratie erfordert immer auch eine Grundhaltung der „Selbstbeschränkung“ (Wolfgang Schäuble). Sie benötigt mit anderen Worten ein Mindestmaß an Respekt: vor der Verfassung und ihren Institutionen, aber auch innerhalb und zwischen unterschiedlichen politischen Strömungen. Und damit auch vor (politisch) Andersdenkenden (hierzu auch Wolfgang Huber im WZGE-Podcast). Zugleich ist Respekt für den demokratischen Staat eine jener „Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. (Ernst-Wolfgang Böckenförde). Denn Respekt lässt sich eben nicht „verordnen“. Er wurzelt in der Freiheit des Einzelnen.
Wahlen und Krisen als Bewährungsproben für die Haltung
Erodiert der Respekt untereinander und vor der Ordnung, degeneriert der Wettstreit. Das hat die Präsidentschaft Donald Trumps besonders eindrucksvoll gezeigt. Beispiele gibt es aber auch in anderen Staaten ebenso wie hierzulande. Prinzipiell sind Demokratien in zwei Phasen besonders anfällig für Respektlosigkeiten: im Umfeld von Wahlen und in Krisenzeiten.
- Wahlen eröffnen die Aussicht auf kurzfristige Richtungs- und Machtwechsel. Entsprechend bieten sie politischen Akteuren Anreize für kurzfristige Handlungen. Der Wettbewerb verschärft sich, Konflikte werden zugespitzt, klare Abgrenzungen eingefordert, Argumente einfacher und der Ton rauer. Harte Angriffe führen mitunter zu härteren Erwiderungen; und mit der Logik des „Tit-for-tat“ besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale.
- Krisen erhöhen den kurzfristigen Handlungs- und Erwartungsdruck für politische Akteure. Unter ungewissen Bedingungen verringert sich indes die Wahrscheinlichkeit kurzfristiger Erfolge. Stattdessen steigt die Fehlerhäufigkeit. Es wird mithin einfacher, ex-post Kritik an fehlerhaften Entscheidungen anderer zu üben, ohne selbst ex-ante Verantwortung für unsichere Entscheidungen übernehmen zu müssen. Gerade in solchen Phasen sind Menschen besonders empfänglich für (zu) einfache Lösungen und vollmundige Versprechen.
In Deutschland stehen in diesem Jahr sechs Landtagswahlen und die Bundestagswahl an. Zugleich ist ein rasches Ende der Pandemie nicht absehbar. Fakt ist: Eine funktionierende Demokratie ist die Voraussetzung zur erfolgreichen Überwindung der Corona-Krise. Denn gerade in ungewissen Zeiten brauchen wir die Vielfalt von Erfahrungen und Kompetenzen. Umso mehr gilt es, den Wettstreit nicht auf Kosten der Demokratie – als Voraussetzung für Vielfalt – zu führen. Oder positiv formuliert: die Haltung des Respekts zu wahren. Allerdings: Wer würde dieser Forderung nicht zustimmen?
Wahlen in der Krise – worauf es ankommt
Der Unterschied zwischen einer „wohlfeilen“ und „wohlwollenden“ Haltung zum Thema Respekt lässt sich an den Anstrengungen festmachen, die politische Akteure auf sich nehmen. Prinzipiell gilt: Wer Respekt von anderen einfordert, muss anderen auch Respekt erweisen. Im politischen Wettstreit bieten sich – jenseits klarer Regelverstöße – drei grundlegende Orientierungen, an denen sich Respekt festmachen lässt:
- Konkurrenz statt Feindschaft
Die „erste ungeschriebene Norm“ des demokratischen Wettstreits ist die gegenseitige Achtung und Anerkennung: Es geht darum, den Gegner als Rivalen zu sehen – und nicht als Feind. Zu diesem Schluss kommen Daniel Ziblatt und Steven Levitsky in ihrer bereits 2018 veröffentlichten und vielbeachteten Analyse „Wie Demokratien sterben“. Kritik an den Ideen politischer Rivalen ist etwas anderes, als ihnen als „Feinden“ pauschal ihre Legitimation abzusprechen – oder allen Institutionen, die ihnen nützen könnten. Je weniger solche feindschaftlichen Angriffe (auch aus den eigenen Reihen!) geahndet werden, umso mehr degeneriert der demokratische Wettstreit zur kämpferischen Konfrontation. Wo Feindschaft herrscht, gibt es indes keine gemeinsamen Ausgangspunkte mehr. Damit entfällt nicht nur die Voraussetzung für Kompromisse, sondern auch für die wechselseitige Anerkennung von Siegen und Niederlagen. Unter diesen Bedingungen ist ein geordneter Wettbewerb kaum noch aufrechtzuerhalten – mit Nachteilen für alle.
- Gemeinsame Grundlagen statt alternativer Fakten
Demokratischer Wettstreit ist stets auch ein Wettbewerb der Versprechen. Auch, wenn sich jede politische Idee letztlich immer der Wirklichkeit stellen muss: „Niemand wird mehr gehasst als derjenige, der die Wahrheit sagt“ (Platon, 335 v.Chr.). Der Konkurrenzdruck verleitet dazu, schwierige Themen und Zumutungen eher zu meiden. Es macht indes einen gravierenden Unterschied, ob man eine unbequeme Wahrheit nicht anspricht oder sie offen bekämpft. Wer den Respekt vor der Wahrheit aus taktischen Gründen zurückstellt und anerkanntem Wissen mit „alternativen Fakten“ begegnet, zerstört die Grundlagen der Verständigung. Allerdings wird Politik ohne gemeinsame Maßstäbe, an denen sich sowohl Versprechen als auch Kritik festmachen lassen, „unbestreitbar“. Mit mehr als 30.000 nachgewiesenen Unwahrheiten hat Donald Trump diesbezüglich wohl einen Negativrekord aufgestellt. Davon können sich die meisten Demokrat*innen vermutlich mit Fug und Recht distanzieren. Respekt vor der Wahrheit muss indes deutlich unterhalb der vorsätzlichen Lüge ansetzen. Wer einen besseren politischen Wettstreit und mehr Respekt für die eigenen Ideen einfordert, sollte selbst auf Vorurteile und Pauschalisierungen bei den Ideen anderer verzichten.
- Verantwortung statt Gesinnung
In seinem berühmten Aufsatz „Politik als Beruf“ hat Max Weber zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik unterschieden. Seine Überlegungen sind aktueller denn je: So wichtig Werte für die Demokratie sind – sie können selbst zum Problem werden. Einerseits durch populistischen Missbrauch, wenn sich die Gegner der Demokratie auf deren Werte – etwa auf die Meinungsfreiheit – berufen. Andererseits aber auch durch bekennende Demokraten, wenn sie Werte moralisierend in Stellung bringen, um eigene Positionen unbedingt durchzusetzen. So ist „Politischer Moralismus“ (Hermann Lübbe) gerade bei jenen zu finden, die für die eigene Position keine Mehrheiten erreichen. Wer von anderen (mehr) Verantwortung im politischen Wettstreit einfordert, muss selbst dessen Regeln respektieren. Das verlangt aber, auch enttäuschende Ergebnisse zu akzeptieren.
Wir starten hierzulande zwar unter schwierigen, aber nicht den schlechtesten Voraussetzungen ins Wahljahr: Das Vertrauen in die Demokratie verzeichnet offenbar noch keine tiefen Einbrüche. Die Gegner der Demokratie konnten bislang kein nennenswertes Kapital aus der Krise schlagen. Bei den demokratischen Parteien sind die innerparteilichen Wettbewerbe auf dem Weg zu den Wahlen überwiegend in konstruktiver Konkurrenz vollzogen worden. Ungeachtet dessen wird die anhaltende Pandemie den Druck auf die politischen Gestalter*innen weiter erhöhen. Wir können (und sollten) also mehr Streit erwarten. Wird er weiterhin mit hinreichendem Respekt geführt, wird die Demokratie gestärkt aus der Krise hervorgehen.