Martin von Broock, Andreas Suchanek
Als Zeichen „gesamtstaatlicher Solidarität“ haben Bund und Länder gerade einen umfangreichen Fluthilfefonds beschlossen. Parallel geht der neueste IPCC-Bericht von einer Zunahme extremer Wetterereignisse aus. So wichtig kurzfristige Beiträge in der Krise sind: Wir müssen uns über Begrenzungen verständigen, wenn wir nachhaltige Solidarität sichern wollen. Worauf es ankommt:
Auf die Flutwelle in Deutschland folgte eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft: Menschen aus allen Teilen des Landes helfen vor Ort, starten Initiativen, spenden. Zeitweise sind die Banken mit den Buchungen von Spendengeldern nicht hinterhergekommen. Das Engagement ist umso überwältigender, da es inmitten der Pandemie erbracht wird. Viele Betriebe und Menschen unterstützen, obwohl sie selbst noch unter den Belastungen der Coronakrise leiden. Damit liefern sie einen beeindruckenden Beleg für gelebte Solidarität.
In den Krisenregionen geht es darum, Ordnung im Chaos zu schaffen. Betroffene benötigen Soforthilfen. Infrastrukturen müssen zumindest provisorisch instandgesetzt werden. Akute Sicherheits- und Gesundheitsrisiken müssen eingedämmt werden. Kürzlich haben sich die Bürgermeister aus dem Ahrtal mit einem Offenen Brief an die Bundes- und Landesregierung gewandt: Sie brauchen Planungshorizonte für Herbst und Winter. Beim Ortstermin bekannte Bundesminister Olaf Scholz, niemand könne den Menschen gesundheitliche oder seelische Schäden ersetzen. „Aber das, was man mit Geld in Ordnung bringen kann, das werden wir mit Geld in Ordnung bringen." Gerade wurde ein Fluthilfefonds im Umfang von 30 Milliarden Euro beschlossen.
Die umfassende Investitionszusage von Bund und Ländern ist fraglos ein wichtiges Signal für die Betroffenen. Sie kann Zuversicht, Hoffnung und zumindest eine Perspektive auf Normalität geben. Genauso wichtig ist aber die Klärung, in welche Ordnung die Dinge mit Geld künftig gebracht werden. Denn bei allem akuten Handlungsdruck wissen wir aus Erfahrungen und Prognosen: Es muss um einen nachhaltigen Wiederaufbau im Sinne des „Build back better“ gehen. Schließlich entscheidet dieser über künftige Chancen und Risiken der Menschen bei Extremwetterlagen.
Nachhaltiger Wiederaufbau – das klingt nach Selbstverständlichkeit. Die Wirklichkeit sieht anders aus. So wird zwar seit dem Oderhochwasser 1997 nach jeder Überschwemmung Ex-Kanzler Helmut Kohl mit den Worten zitiert: „Wir müssen den Flüssen ihren Raum lassen. Sie holen ihn sich sonst zurück, mit schlimmen Folgen für die betroffenen Menschen“. De facto wurde in zwei Jahrzehnten lediglich ein Prozent der kritischen Fläche zum Ausweichraum für Hochwasser umgewidmet. Pro Tag werden durchschnittlich 25 Hektar Fläche zusätzlich versiegelt. Das entspricht 35 Fußballfeldern. Nach Ansicht des Gesamtverbands der Versicherungswirtschaft hat die Bauplanung bislang kaum auf die Erkenntnisse der Klimaforschung reagiert. So seien seit der Jahrtausendwende 32.000 neue Wohngebäude in hochwassergefährdeten Risikogebieten entstanden.
Es besteht eine offensichtliche Lücke zwischen ad-hoc Solidarität im Krisenfall und solidarischer Nachhaltigkeit in der Krisenprävention: Einerseits erleben wir in Ausnahmesituationen kurzfristig ein beeindruckendes Engagement von Bürger*innen und umfassende staatliche Hilfen. Diese Formen der Solidarität sind elementar für die Betroffenen und unabdingbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Andererseits gelingt es uns bislang nicht, aus jenen Ausnahmesituationen gemeinschaftlich die längerfristigen Lehren zu ziehen. Genau das setzt aber das vielbeschworene Konzept der Resilienz voraus, wenn wir auch künftig plötzliche Belastungen meistern wollen.
Umso wichtiger ist es deshalb, folgenden Zusammenhang (an) zu erkennen: Je mehr die Ausnahmesituationen zunehmen, umso weniger werden wir Solidarität in jenen Situationen erwarten können. Denn „Sollen“ setzt immer auch „Können“ voraus. Und je mehr Menschen von Katastrophen umfassender betroffen sein werden, umso weniger können sie anderen helfen. Auf eine solche Entwicklung deutet Vieles hin: Im neuesten IPCC-Bericht rechnen die Wissenschaftler damit, dass Extremwetterlagen sowohl in ihrer Häufigkeit als auch in ihren Auswirkungen zunehmen werden. Parallel sehen Rückversicherer die immer höheren Katastrophenschäden als wesentliche Risiken für ihr Geschäftsmodell. Kurzum: Der Solidargemeinschaft droht Überforderung.
Nachhaltige Solidarität verlangt deshalb, nicht nur die akute Hilfe in den Blick zu nehmen. Es geht auch darum, in die Möglichkeiten zur künftigen Hilfe zu investieren. Denn Solidarität als gesellschaftlicher Grundwert ist mehr als Unterstützung im Ausnahmefall. Sie muss gerade auch dort im Alltag wirken, wo sie kein außergewöhnliches Engagement benötigt, keine spektakulären Bilder erzeugt, keine tiefen Emotionen auslöst, aber dennoch stetige Beiträge erfordert. Deshalb ist es richtig, wenn jetzt über neue Formen der Elementarversicherung nachgedacht wird. Aber Versicherungen adressieren nur die Folgen, nicht die Ursachen zunehmender Ausnahmesituationen.
Es braucht daher mehr: Wenn wir unsere künftigen Möglichkeiten zur Solidarität erhalten wollen, benötigen wir zwei Arten von Investitionen: in Gaben und Grenzen. Es geht nicht nur darum, was wir gemeinschaftlich im Krisenmanagement akut unternehmen. Zunehmend wichtig wird, was wir im Dienste einer nachhaltigen Solidarität künftig unterlassen. Und darin liegt die weitaus größere Herausforderung als im kurzfristigen Geben. Das zeigt sich in der aktuellen Situation:
- So notwendig umfassende Hilfspakete sind – ihre Auszahlungen müssen an Grenzen gekoppelt werden. Für die bereitgestellten Gelder ist auch zu klären, wofür sie nicht (mehr) verwendet werden sollen. Anderenfalls droht die Gefahr, dass kollektive Risiken wie in der Vergangenheit einfach fortgeschrieben werden, anstatt nachhaltig solidarisch zu handeln – siehe Faktencheck oben. Bereits jetzt wächst in den betroffenen Regionen die Erkenntnis, dass bestimmte Lagen und Standorte nicht zu halten sein werden. Statt Wiederherstellung müssen Dörfer „neu gedacht“ werden. Das wird nur gelingen, wenn die Entscheider*innen vor Ort hinreichende Unterstützung über längere Zeit erfahren.
- Entsprechend sind auch die Erwartungen an die Normalität nach der Krise zu begrenzen: Ein besserer Hochwasserschutz erfordert Kompromisse zwischen kollektiver Sicherheit und individuellen Interessen. Die damit einhergehenden Belastungen vor Ort sind sehr ungleich verteilt. Und sie werden langfristig nachwirken: Manche Menschen müssen den über Generationen aufgebauten Familiensitz aufgeben; andere ihren Betrieb an anderer Stelle neu aufbauen. Kommunen müssen Planungen und Zusagen zurücknehmen. Das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Umso mehr sind die betroffenen Regionen auf nachhaltige Solidarität von außen angewiesen. Sie wird sich auch darin zeigen, inwiefern ihre künftigen Besucher*innen eigene Erwartungen begrenzen, mittelfristig Einschränkungen und langfristig die Priorität von Hochwasserschutz vor touristischem Komfort akzeptieren. Gerade darauf werden die betroffenen Regionen langfristig angewiesen sein.
- Die wohl größte Herausforderung für nachhaltige Solidarität wird darin bestehen, diese Lehren auch auf andere Risikoregionen zu übertragen und dort präventive Maßnahmen der Selbstbegrenzung zu akzeptieren. Denn: Vorsorge mit hoher Wirkung für die Gemeinschaft bringt oft einen geringen unmittelbaren Nutzen für Einzelne, geht aber in der subjektiven Wahrnehmung mit hohen Zumutungen einher. Dieses Präventionsparadox haben wir vielfach auch in der Pandemie erlebt. Unsere Fähigkeit zur nachhaltigen Solidarität wird deshalb entscheidend davon abhängen, inwiefern wir Akzeptanz für „präventive Zumutungen“ schaffen können und so Ausnahmesituationen verringern.
Extremwetter und Naturkatastrophen zeigen: Die Natur lässt sich nur in Grenzen kontrollieren. Wir müssen uns vor allem selbst Grenzen setzen. Diese Fähigkeit ist nur dem Menschen gegeben. Sie ist die zentrale Voraussetzung für eine nachhaltig solidarische Gesellschaft.