Weniger Bürokratie fordern heißt: mehr Verantwortung zutrauen

Martin von Broock, Andreas Suchanek

„Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?“ fragt der Economist. Und benennt als eine Ursache die ausufernde Bürokratie. Dass wir nun bereits das vierte Entlastungsgesetz in kurzer Zeit angehen zeigt: Über neue Regeln allein werden wir das alte Problem kaum lösen. Wir müssen auch bei der Kultur des Miteinanders ansetzen – und uns selbst zwei Fragen stellen.

Bürokratie am Anschlag

Geschlagene 120 Tage dauert laut Economist in Deutschland die Beantragung einer Geschäftslizenz. Das ist doppelt so lange wie der OECD-Durchschnitt. Für den Transport eines einzigen Windrades sind bis zu 150 Genehmigungen notwendig. Selbst die Einrichtung einer Garderobe im Kindergarten erfordert komplexes Projektmanagement. Inzwischen gibt es in Deutschland allein auf Bundesebene rund 100.000 Vorschriften, die sich mitunter widersprechen. Damit werden selbst öffentliche Einrichtungen bisweilen in die pragmatische Illegalität gezwungen: Sie sind nur noch entscheidungsfähig, wenn sie bestimmte Regeln nicht anwenden. Keine günstigen Voraussetzungen für mehr Innovationsfähigkeit, eine raschere Nachhaltigkeitswende und bessere Bildung.

Mehr Bürokratie durch Bürokratieabbau?

Über die Notwendigkeit zum Bürokratieabbau besteht seit Langem Einigkeit. Aber auch drei Bürokratieentlastungsgesetze in den letzten acht Jahren haben kaum Erleichterung gebracht. Zwar hat sich die Regierung zur „one-in, one-out-Regel“ verpflichtet, wonach jedes neue Gesetz die Abschaffung eines alten voraussetzt. Faktisch kommen aktuell aber auf jeden entfallenden Rechtsakt fünf neue. Insofern ist fraglich, ob das jüngst avisierte vierte Gesetz zur Bürokratieentlastung tatsächlich der „Game-Changer“ wird. Schließlich verursacht die Dynamik vieler Themen – von der Gesundheit bis zur Digitalisierung – immer neuen Klärungsbedarf. Über pure Forderungen nach „weniger Bürokratie durch neue Gesetze“ hinaus, stellt sich daher die Frage: Wer trägt die Verantwortung dafür, dass sich Bürokratie angemessen, oder besser: menschendienlich entwickelt?

Wer ist eigentlich verantwortlich?

Max Weber hat Bürokratie als die „rationale Form der legalen Herrschaft“ beschrieben. Aber wer herrscht hier über wen? „Herrschaft“ wird im Kontext von Bürokratie meist verbunden mit Beamten, Politik oder ganz allgemein: „dem System“.  Die „da oben“ machen bürokratische Vorgaben. Wir „hier unten“ müssen diese Vorgaben in den Niederungen des Alltags ertragen. Diese Sichtweise ist beliebt, weil sie die Verantwortungsfrage ziemlich einfach klärt. Zu einfach.

Denn in einer Demokratie üben letztlich wir alle die Herrschaft aus: indem wir Parteien für ihre Programme wählen, Interessenorganisationen für ihre Forderungen unterstützen oder persönlich Initiative ergreifen. Wir entscheiden mit, in welchem Maße wir uns selbst verwalten – oder Verwaltung delegieren. Etwa, wenn wir präzisere Regeln für KI einfordern oder ablehnen. Mehr oder weniger Klärung für Homeoffice verlangen. Exaktere Maßstäbe für schulische Leistungen anmahnen oder zurückweisen. Dabei macht stets auch der „Ton die Musik“: Je weniger Konflikte wir im Dialog klären können, umso mehr müssen wir auf den formalen, bürokratischen Verfahrensweg zurückgreifen.

In einer Demokratie sind die geltenden „Spielregeln“ also immer auch geprägt vom gemeinsamen „Spielverständnis“. Darauf hat bereits der vor genau 30 Jahren mit dem Nobelpreis geehrte Ökonom und Wirtschaftshistoriker Douglass North hingewiesen: Im Ausmaß an Bürokratie spiegelt sich stets auch die Kultur des Miteinanders wider. Insofern wird es nicht ausreichen, das Bürokratieproblem nur auf der Regelebene anzugehen. Wir sollten auch beim Spielverständnis, also unseren Überzeugungen und Ansprüchen in der Regelanwendung und -fortschreibung, ansetzen. Anders formuliert: Für weniger Bürokratie müssen wir auch unsere Haltung überdenken.

Warum Bürokratie unverzichtbar ist

Die ethische Funktion der Bürokratie lässt sich angelehnt an Niklas Luhmann so beschreiben: Bürokratie dient der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, indem sie abstraktes Recht ohne Ansehen der Person in konkrete Entscheidungen übersetzt – von der behördlichen Anweisung bis zum unternehmerischen Zertifikat. Dabei präzisiert Bürokratie das Zusammenspiel von individuellen Freiheiten und Verantwortlichkeiten. Man hat etwa das Recht ein Fahrzeug zu nutzen, eine Anlage zu betreiben oder ein Gebäude zu errichten, solange man die Pflicht zur Einhaltung bestimmter Sicherheitsstandards und zur Rücksicht auf andere eingeht. Bürokratie unterstützt also verlässliche gegenseitige Erwartungen: Woran wird meine Verantwortung festgemacht? Und woran kann ich mein Vertrauen in die Verantwortung anderer festmachen?

Der Kern des Problems

Gesellschaftliche Zusammenarbeit funktioniert, solange Rechte, Pflichten und gegenseitige Erwartungen hinreichend im Gleichgewicht stehen. Jenes Gleichgewicht beeinflussen wir alle: Je mehr eigene Rechte wir einfordern und damit die Erwartungen an andere erhöhen, umso mehr tragen wir selbst zur Bürokratie bei. Je weniger wir eigenen Verantwortungspflichten nachkommen und die Erwartungen anderer enttäuschen, umso mehr werden andere auf mehr Bürokratie pochen. Wenn wir uns also als Einzelne weniger Bürokratie wünschen, müssen wir uns zwei Fragen stellen:

  • Inwieweit bin ich selbst bereit, neue Freiheiten auch mit weniger Vorgaben verantwortlich zu nutzen? Ohne die Checkliste, das Siegel, die Verfahrensvorschrift muss ich mehr nach eigenem Ermessen entscheiden – und vor anderen begründen. In dieser Hinsicht bedeutet weniger Bürokratie auch weniger Entlastungsansprüche und mehr Eigenverantwortung.
  • Inwieweit vertraue ich anderen, dass sie neue Freiheiten nicht zu meinem Schaden ausnutzen? Wo etwa Bauvorschriften, betriebliche Verhaltensrichtlinien oder Vereinssatzungen weniger detailliert ausfallen, werden Menschen Handlungsspielräume sehr unterschiedlich nutzen. In dieser Hinsicht erfordert weniger Bürokratie auch weniger Konformitätsansprüche und mehr Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen.

Was daraus folgt

Bürokratieabbau ist also nicht zum Nulltarif zu haben. Er „kostet“ uns alle mehr Bereitschaft zu Eigenverantwortung und wechselseitiger Toleranz. Diese Bereitschaft lässt sich nicht per Gesetz erzwingen. Stattdessen geht es darum, Menschen zur „unbürokratischen“ Verantwortung zu befähigen. Dass wir dafür bei den gegenseitigen Erwartungen ansetzen müssen, schlussfolgert auch der Normenkontrollrat Baden-Württemberg in seinem Positionspapier und zeigt Ansatzpunkte für den notwendigen Kulturwandel auf:

Solange Menschen primär auf Fehlervermeidung statt auf Lösungsorientierung setzen („Cover your ass“), auf die eigene Kompetenz pochen anstatt Kooperation zu unterstützen („Silodenken“), präventive Nachweispflichten das Berichtswesen immer weitertreiben („Prinzip Misstrauen“) und unser Anspruch darin besteht, auch seltenste Schäden um jeden Preis vermeiden zu wollen („Null-Risiko“), wird sich die Bürokratiespirale weiterdrehen. Egal, welche Entlastungsgesetze folgen.

 

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