Davos 2022: Gegen Spaltung hilft nur Integrität

Martin von Broock, Andreas Suchanek

Zum (virtuellen) Weltwirtschaftsforum wurden neue Daten zur globalen Zusammenarbeit veröffentlicht. Legt man globalen Risikobericht und Vertrauensbarometer nebeneinander, zeigt sich das grundlegende Dilemma auf dem Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft: Wir müssen uns mehr zumuten – ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu riskieren. Dabei werden gerade in die Wirtschaft hohe Erwartungen gesetzt. Wir legen dar, worauf es für Unternehmen ankommt.

Transformation oder Disruption – in jedem Fall Veränderung

Die Kernbotschaft des vom World Economic Forum (WEF) vorgelegten Globalen Risikoreports ist eindeutig: Langfristig liegt im Klimaschutzversagen das größte Risiko für die Weltgemeinschaft. Zunehmende Dürren, Fluten, Brände und Extremwetter entfalten mittlerweile überall gravierende Schäden. In der Folge steigt der Handlungsdruck auf Regierungen, Unternehmen und Gemeinschaften.

Um künftige gravierende Folgen abzuwenden, müssten wir allerdings heute Maßnahmen treffen, die erhebliche Zumutungen für viele mit sich bringen. Darunter fallen laut Report Arbeitsplatzverluste, steigende Preise und geopolitische Unsicherheiten. Es sei jedoch nicht die Frage ob, sondern vielmehr wann wir uns den damit verbundenen Konflikten aussetzen. Und mit jedem Jahr der Verzögerung notwendiger Maßnahmen verringern sich die Möglichkeiten, ökologisch erforderliche und sozial akzeptable Konsequenzen zu gestalten. Zugespitzt formuliert: Wir haben die Wahl zwischen einer geordneten Transformation heute oder einer ungeordneten Disruption morgen. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die zweite Option bereits letztes Jahr für verfassungswidrig erklärt.

Immer mehr Entscheider*innen in Regierungen, Unternehmen, Kapitalmärkten und Gemeinschaften erkennen die Notwendigkeit zum rascheren Handeln. Das ist die gute Nachricht im Risikobericht. Zugleich gilt: „Each group [is] setting higher expectations on the other”. Jene hohen Erwartungen können in einen konstruktiven Wettbewerb für einen besseren und schnelleren Wandel münden. Sie können aber auch einen spaltenden Wettstreit im Sinne des „Blame Games“ befeuern; getreu dem Motto: Die Schuld für zu langsame Fortschritte tragen prinzipiell die anderen – je nach eigenem Blinkwinkel entweder die Politik, die Wirtschaft, die NGOs oder auch die Bürger*innen und Konsument*innen.

Darin liegt selbst ein Risiko: Wenn die allgemeinen Erwartungen an Veränderung deutlich schneller zunehmen als erkennbare Ergebnisse, geraten zuerst die Entscheider*innen und dann die Ordnungen als Grundlage gesellschaftlicher Zusammenarbeit – unter Druck. Darauf deutet Vieles hin.

Keine Transformation ohne gesellschaftlichen Zusammenhalt

Kurzfristig ist nach Meinung der vom WEF befragten Expert*innen die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts jenes Risiko, das seit der Pandemie am deutlichsten zugenommen hat. Hinzu kommt die wachsende Wahrscheinlichkeit individueller Existenzkrisen. Die Zahlen des Edelman Trust Barometers zeigen: Die Bürger*innen haben am meisten Sorge vor möglichen Arbeitsplatzverlusten. Tatsächlich sind Stellenabbau und -verlagerungen in verschiedenen Branchen ja bereits absehbar. Und trotz neu entstehender Arbeitsplätze wird es mindestens Brüche und Lücken geben.

Hier liegt das zentrale Dilemma der Transformation: Einerseits gilt es, den gesellschaftlichen Zusammenhalt als Voraussetzung erfolgreicher Veränderung zu bewahren. Gleichzeitig muss Akzeptanz für die negativen Nebenwirkungen jener Veränderung geschaffen werden. Dafür ist ein Grundvertrauen der Menschen in Demokratie und Märkte unabdingbar.

Bei den Bürger*innen ist unter dem Eindruck der Pandemie allerdings die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft gesunken: Laut Edelman-Studie vertraut weltweit nur noch etwas mehr als die Hälfte der Menschen in die Demokratie. Ebenfalls mehr als die Hälfte ist der Meinung, der Kapitalismus schade den Menschen mehr, als dass er Gutes bewirke. Und ein Drittel ist sogar der Ansicht, dass zentralistische Wirtschaftssysteme zu besseren Ergebnissen führten als marktbasierte.  

Das sind äußerst ungünstige Voraussetzungen für die politische Durchsetzung rascher und tiefgreifender Veränderungen. Umso mehr gerät die Rolle der Wirtschaft in den Blickpunkt. „Business must lead in breaking the cycle of distrust” resümieren die Autoren des Edelman Trust Barometers. Denn erstens werde Unternehmen gegenüber Regierungen generell eine höhere Kompetenz in der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen zugeschrieben. Deshalb würden Menschen zweitens mehr Sichtbarkeit von CEOs gerade in kontroversen Themen wie Klimaschutz, Jobsicherung oder gerechten Löhnen erwarten. Und drittens genieße der eigene Arbeitgeber weiter die höchste Glaubwürdigkeit.

Wie Unternehmen gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinflussen

Unternehmen stehen auf dem Weg in die Klimaneutralität also vor einer doppelten Herausforderung. In der Analogie des Sports lässt sie sich so beschreiben: Unternehmen müssen im Spielfeld auch unter neuen Regeln erfolgreich im Wettbewerb bestehen. Zugleich sollen sie verstärkt zur Akzeptanz für das neue Spielfeld beitragen. Zwar liegt das Primat zur Gestaltung jenes Spielfelds auch künftig bei der Politik und die Durchsetzung der Regeln bei Verwaltungen und Gerichten. Allein können sie die notwendigen Veränderungen aber nicht durchsetzen. Um im Bild zu bleiben: Je mehr die Schiedsrichter angegangen werden, umso mehr sind sie auf Unterstützung angewiesen.

Im Lichte dieser doppelten Herausforderung sollten Unternehmen auf zwei Ebenen investieren: Zuvorderst müssen sie ihre Leistungen nachhaltiger und vor allem klimaneutral ausrichten, um im Spiel zu bleiben. Aus Unternehmen mit Nachhaltigkeitsstrategien müssen nachhaltige Unternehmen werden. Zugleich müssen Unternehmen ihre Integrität stärken, um den wachsenden Zweifeln am Spiel und den gesellschaftlichen Spaltungstendenzen keinen weiteren Vorschub zu leisten.

Das setzt ein umfassenderes Integritätsverständnis voraus. Drei Prämissen sind dafür entscheidend:

  • Bei unternehmerischer Integrität geht es nicht mehr allein um die Einhaltung von Regeln. Der pauschale Verweis auf formale Verfahren greift zu kurz, weil manche Verfahren gerade Teil der Systemkritik sind. Tatsächlich gibt es immer auch faktische Regeldefizite. Gerade in diesen Fällen hinterfragen die Menschen zunehmend die Haltung von Unternehmen.
  • Integritätsmanagement heißt für Unternehmen daher auch: Vorwürfen des Widerspruchs zwischen Haltung und Handeln aktiver zu begegnen. Denn bleiben jene Vorwürfe ohne Erwiderung, befördern sie auch die Systemkritik. Dabei gilt: Nicht jeder Vorwurf ist unbegründet. Nicht jede Erwartung ist (inzwischen noch) legitim. Und nicht jedes Handeln wird zutreffend wahrgenommen. Gerade in der Transformation steigt der Klärungs- und Erklärungsbedarf.
  • Integritätsmanagement muss deshalb über „just compliance“ hinausgehen. Inwieweit ein Unternehmen zu Ordnung und gesellschaftlichem Zusammenhalt beiträgt, macht sich vor allem an drei Faktoren fest: Hält es sich an die Regeln (Compliance)? Spielt es bei der Fortentwicklung der Regeln eine konstruktive Rolle (Lobbying)? Bezieht es in wichtigen gesellschaftlichen Debatten Position (Kommunikation)?

Fazit

Für das Ziel der Klimaneutralität müssen wir schneller verändern. Dabei sind soziale Konflikte unausweichlich. Umso mehr brauchen wir stabile Ordnungen und wechselseitige Verlässlichkeit zur Bewältigung jener Konflikte. In der Pandemie ist das Vertrauen in Marktwirtschaft und Demokratie allerdings zurückgegangen. Breitere Allianzen sind notwendig, um gesellschaftlichen Spaltungen entgegenzuwirken. Dabei steigen die Erwartungen an die Wirtschaft. Unternehmen sollten diesen Erwartungen mit einem erweiterten Integritätsverständnis begegnen. Denn: Allgemeine Forderungen nach mehr Kooperation reichen nicht. Man muss auch in die Voraussetzungen zur Kooperation investieren.

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