Covid 19: In der Krise zählt Integrität – vor allem für die Zeit danach!

Martin von Broock, Andreas Suchanek

„Bitte ziehen Sie alle mit. Tun Sie jetzt das, was richtig ist für unser Land.“ In der Krise appelliert die Bundeskanzlerin an die Integrität der Menschen. Warum Investitionen in Integrität jetzt wichtig sind, vor allem auch für Unternehmen.

In ungewissen Zeiten „das Richtige“ tun, auch unter Druck im Einklang mit gemeinsamen Regeln und anerkannten Werten handeln – genau dies meinen wir, wenn wir Einzelnen, Unternehmen oder Organisationen Integrität zusprechen. Integrität muss sich in Situationen bewähren, die man sich nicht aussuchen kann. Dazu zählt zweifellos die aktuelle Corona-Krise. Und tatsächlich erleben wir derzeit viele Beispiele für integres Handeln: In Deutschland halten sich die meisten Menschen an die Kontaktsperren – auch ohne martialische Drohkulissen. In der Politik werden in pragmatischen Verfahren parteiübergreifende Lösungen entwickelt – ohne die üblichen taktischen Manöver. In der Wirtschaft arbeiten die Sozialpartner an raschen gemeinsamen Lösungen zum Schutz von ArbeitnehmerInnen und Betrieben – ohne längere Auseinandersetzung. Unternehmen spenden Atemmasken (z.B. Automobilindustrie) oder Desinfektionsmittel (z.B. Spirituosenhersteller), Belegschaften unterstützen sich untereinander.

Offenbar ist es um den Willen und die Fähigkeit zur solidarischen Kooperation besser gestellt, als dies manche Umfragen in der Vergangenheit vermuten ließen. Und darin liegt – trotz vieler Ungewissheiten und Risiken – die große Chance der Corona-Krise: Es gibt nach wie vor ein Vertrauenskapital in der Gesellschaft. Jenseits tiefgreifender Interessenkonflikte bestehen der Wille und die Fähigkeit zum solidarischen Handeln. Integrität  ist dafür die Voraussetzung: Wir können uns aufeinander verlassen, wenn es darauf ankommt – von der  Bundestagsabgeordneten bis zum Busfahrer.

Krisen sind Zeiten, in denen auf Vermögenswerte zurückgegriffen werden muss: So wie uns der Sparkurs der letzten Jahre die finanziellen Spielräume für umfangreiche Hilfsprogramme ermöglicht, so beeinflusst „Integritätskapital“ die Möglichkeiten zur Ad-hoc-Kooperation – in der Gesellschaft, in Betrieben, im Privaten. Denn die Fähigkeit zum pragmatischen Handeln hängt neben materiellen Voraussetzungen eben immer auch davon ab, ob die Menschen in die Notwendigkeit und Richtigkeit kurzfristiger Maßnahmen vertrauen. Schließlich müssen Beteiligungsprozesse und Aussprachen in der Krise begrenzt werden (wenngleich sie nicht entfallen dürfen). Vertrauen wiederum hat seine Grundlage in wahrgenommener Integrität. So erklärt sich der ungewöhnliche, emotionale Appell der Bundeskanzlerin an das „richtige Handeln“.

Allerdings sind gerade in Krisenzeiten immer wieder Tendenzen wahrnehmbar, den ökonomischen Notwendigkeiten Vorrang zu geben. Integrität wird mitunter, wenn auch nicht öffentlich ausgesprochen, als „Luxus“ gesehen, den man sich schlichtweg nicht (mehr) leisten könne. Tatsächlich verursacht werte- und regelkonformes Handeln stets Aufwand: Die Einhaltung von Versprechen gegenüber BürgerInnen, MitarbeiterInnen, KundInnen oder Kooperationspartnern, das Binden an vereinbarte Vorgehensweisen „kostet“ Zeit, Geld und Energie.

Aber diese Kosten – und genau dies wird in der Krise so deutlich – sind Investitionen: in künftiges Integritätskapital, in Verlässlichkeit und Vertrauen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich, ob man zu seinem Wort steht, auch wenn es einen etwas kostet. Integrität ist mit anderen Worten nur dann ein Wert, wenn er einem auch etwas wert ist. Denn nur so wird gelebte Integrität zum Signal: Wenn Einzelne, Unternehmen und Organisationen sich gegenwärtig Belastungen auf sich nehmen, dann erweisen sie sich als vertrauenswürdig. Und kaum etwas ist wertvoller in Krisenzeiten als Vertrauenswürdigkeit.

Allerdings bedeutet Integrität nicht die Aufgabe der eigenen Interessen bis hin zur Aufopferung. BürgerInnen können die Krise nur dann durchstehen, wenn sie weiter Löhne und Gehälter beziehen. Unternehmen können nur dann Waren und Dienstleistungen anbieten (und Löhne und Gehälter zahlen), wenn sie weiterhin Einnahmen und Überschüsse verzeichnen. Der Staat wird BürgerInnen, Unternehmen und Organisationen nur dann langfristig helfen können, wenn er hinreichende Steuereinnahmen erzielen kann. Integritätserwartungen an andere dürfen deshalb nicht allein deren Willen in den Blick nehmen, sie müssen auch die Handlungsspielräume berücksichtigen: Welche „Kosten“ können wir uns wechselseitig zumuten?

Unter diesen Voraussetzungen verlangt die Frage nach dem integren, „richtigen“ Handeln in der Krise differenzierte Antworten. Was wir allerdings mindestens voneinander erwarten können: unangemessene oder unberechtigte Schädigungen zu vermeiden. Was ist damit gemeint? Krisensituationen eröffnen stets auch Spielräume für „Quick-Wins“ auf Kosten anderer. Vor allem dann, wenn die Krise als Vorwand herangezogen wird: Vereinbarte Verfahren werden einseitig außer Kraft gesetzt. Das unbequeme Thema wird einfach abmoderiert – oder durchgedrückt. Der unliebsame Kooperationspartner wird abserviert. Man beharrt auf bestehenden Forderungen, auch wenn es den anderen ruiniert. Berechtigte Ansprüche anderer werden zurückgewiesen. Kompromissbereitschaft wird ausgebeutet. Hilfsangebote werden unberechtigt in Anspruch genommen.

Aus rechtlicher Sicht mögen manche dieser Vorgehensweisen im Krisenmodus unbedenklich erscheinen. Und sie können zweifellos kurzfristige Vorteile eröffnen. Im Hinblick auf den Wert Integrität sind sie dagegen aus zwei Gründen ein Desinvestment mit hohem Risiko. Mit dem jetzigen Handeln wird das künftige Integritäts- und Vertrauenskapital mitbestimmt.  Erstens liegen die größten Herausforderungen der Krise noch vor uns. Das weitere Krisenmanagement und die längerfristigen Folgen werden uns noch viele Zumutungen abverlangen. Und diese Zumutungen werden wir in der Bürgergesellschaft, im politischen Betrieb oder in Unternehmen auch weiterhin nur mit hinreichender Zustimmung bewältigen können. Dafür ist Vertrauenskapital unabdingbar und Integrität dessen wichtigste Voraussetzung. Zweitens ist die Zeit der Krise begrenzt, die Zeit nach der Krise dagegen unbegrenzt. Alle Konfliktthemen, die gegenwärtig ausgeblendet sind, werden zurückkommen. Vielleicht sogar umso heftiger. So hat beispielsweise auch die Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 der Nachhaltigkeitsdiskussion keinen Abbruch getan. Umso wichtiger ist es, in Zeiten der Krise die Fähigkeit zur Mitgestaltung der Debatten nicht leichtfertig zu verspielen. Wer jetzt integer bleibt, investiert in seine künftigen Freiheiten.