Covid 19 - (k)ein Grund zur Panik?

Martin von Broock, Andreas Suchanek

Vor allem Unternehmen haben früh auf das Virus mit sehr restriktiven Reiseregelungen reagiert. Solche Selbstbegrenzungen sind gerade in Krisenzeitenzeiten ethisch geboten.

„The coronavirus panic is dumb“, twitterte jüngst der Tesla-Gründer Elon Musk (https://twitter.com/elonmusk/status/1236029449042198528). „Saying the coronavirus panic is dumb is dumb“ antwortete daraufhin der Autor des Buches “Der Schwarze Schwan”, Nicholas Taleb. (https://twitter.com/nntaleb/status/1236319814576214016?mod=article_inline). Ihm geht es natürlich nicht darum, Panikverhalten gutzuheißen und Besonnenheit zu verabschieden. Vielmehr will er darauf hinweisen, dass in der gegenwärtig ungewissen Situation eine gewisse Überreaktion in Richtung Vorsichtsmaßnahmen rational ist. Denn auch wenn das individuelle Risiko einer Ansteckung mit tödlichem Ausgang äußerst gering sein mag, stellt sich das Problem aus kollektiver Sicht anders da: Es geht um die Eingrenzung einer exponentiellen Verbreitung.

Die Süddeutsche Zeitung (https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/wissen/coronavirus-die-wucht-der-grossen-zahl-e575082/) illustriert diese „Wucht der großen Zahl“: Wenn am 10. März 1.218 Fälle registriert sind und sich binnen sechs Tage die Fälle verdoppeln, sind am 19. Mai 1.247.232 Fälle zu erwarten. Man könnte praktisch nicht mehr das Haus verlassen, ohne damit rechnen zu müssen, dass man sich ansteckt.

Nun gibt es faktisch Rückkopplungen, die die Verbreitung des Virus bremsen können. Der wichtigste dieser bremsenden Faktoren ist unser eigenes Verhalten. Und dieser Faktor wird umso wichtiger, je weniger die zuständigen Institutionen eine Krisensituation ad-hoc bewältigen können oder sogar selbst unter Druck geraten. Gerade unter diesen Bedingungen kommt es darauf an, die eigenen Freiheiten verantwortlich wahrzunehmen. Wir wollen mit Hilfe des ethischen Kompasses verdeutlichen, wie diese Verantwortlichkeit präzisiert werden kann:

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Der ethische Kompass für gute Führung

Ohne offizielle Vorgaben ist jeder Akteur zunächst einmal frei, eine Veranstaltung stattfinden zu lassen oder abzusagen, eine Reise zu unternehmen oder zu stornieren, sich mit knappen Gütern wie Desinfektionsmitteln zu bevorraten oder diese medizinischen Einrichtungen zu überlassen, die Hand zu schütteln oder nicht. All diese Handlungen können Einfluss auf die Verbreitung des Virus entfalten. Wie wägt man die eigenen Freiheiten verantwortlich ab? Der ethische Kompass gibt als Leitmaxime „do no harm“ vor: Es geht grundsätzlich darum, Schädigungen nach Möglichkeit zu vermeiden oder nur unter guten Gründen zuzulassen. Jene Gründe sind an folgenden Orientierungen zu prüfen:

Zunächst einmal zu klären, welche kurz- und längerfristigen Kosten die zur Disposition stehenden Alternativen für einen selbst und für andere verursachen. Es geht also um die Einbettung der eigenen Interessen in die Sozial- und Zeitdimension. Am hier diskutierten Beispiel:

Individuelle Beiträge zur Bewältigung der Krise entfalten zweifellos persönliche Nachteile bzw. Kosten: die Absage des lange geplante Stakeholder-Events (das gerade in diesem Jahr besonders viele Anmeldungen verzeichnete), der Verzicht auf das Sport- oder Kulturevent (für das man unter großen Mühen eine Karte ergattert hat) oder die Absage des ersehnten Kururlaubs (ohne Rückerstattungsmöglichkeit). Diese Kosten werden als Beschränkung der persönlichen Freiheit erfahren. Gleichzeitig gilt aber auch: Mit der Teilnahme an einer größeren Veranstaltung geht man nicht nur ein persönliches Risiko ein. Mitunter verursacht man – ungewollt – wesentliche Nachteile bzw. Kosten für andere. Denn als unwissender Überträger steckt man vielleicht weitere Personen an, die ihrerseits unwissend das Virus an dritte Personen weitergeben, die ihrerseits – möglicherweise ebenfalls unwissend – zu einer Hochrisikogruppe zählen. Damit wird man ungewollt zum Teil des zentralen Problems der Krise, das derzeit von allen Experten betont wird: der hohen Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus. Tatsächlich geht es im Moment in erster Linie darum, Zeit zu gewinnen. Jeder Tag bringt neue Erkenntnisse und uns damit wirksamen Gegenmaßnahmen näher. Vor allem aber geht es darum, einer Überlastung des Gesundheitssystems vorzubeugen. Je mehr vor allem die schweren Krankheitsfälle über die Zeit gestreckt werden können, umso höher sind die Chancen für erfolgreiche Therapien. Eine Verlangsamung der Ausbreitung ist außerdem wichtig, um andere unverzichtbare Infrastrukturen der öffentlichen Ordnung arbeitsfähig zu halten – von Grundlagen der Verwaltung über die Feuerwehr bis zur Energieversorgung.

Nach der Klärung der möglichen Kosten stellt sich die Frage: Gibt es (gute) Gründe dafür, sich selbst oder anderen manche „Schädigung“ zuzumuten? Für die Abwägung ist eine Haltung des Respekts im Sinne der Goldenen Regel entscheidend: Welche Erwartungen stelle ich an andere, und inwiefern spiegeln sich diese Erwartungen in meinem eigenen Handeln wider? Konkret: Für gesunde Erwachsene stellt das Virus nach derzeitigem Wissensstand eine überschaubare Gefahr da. Wir müssen aber den höheren Schutzbedarf von Risikogruppen respektieren (den wir vermutlich vehement einfordern würden, wenn wir selbst zu dieser Gruppe gehören würden). Für viele Beschäftigte wären Quarantänebedingungen (Homeoffice etc.) infolge einer vermeintlichen Infektion vermutlich eher ein überschaubares Problem. Wir müssen aber die begrenzten Potenziale von versorgungskritischen Einrichtungen respektieren (die wir im Falle einer eigenen Erkrankung ganz selbstverständlich in Anspruch nehmen wollten). Und vor diesem Hintergrund sollten wir auch die Empfehlungen all jener ExpertInnen respektieren, die sich genau mit diesen Zusammenhängen im größeren Bild auf der Grundlage langjähriger Erfahrungen und gesicherter Methoden befassen (genauso wie wir erwarten, dass unsere Expertise auf unserem Fachgebiet respektiert wird).

Daraus folgt schließlich: Der Erhalt unserer Freiheiten hängt maßgeblich davon ab, wie wir wechselseitige Schädigungen vermeiden. Zu diesem Zweck kann es klug sein, sich – jenseits verpflichtender Regeln – selbst zu begrenzen. Ganz konkret: Unternehmen beschränken heute ihre Reisen, um auch morgen arbeitsfähig zu bleiben. Dabei gilt: Wer im Homeoffice arbeitet, kann nicht nur weiterhin zur Wertschöpfung beitragen. Man bleibt auch privat mobil (natürlich erwarten Unternehmen, dass diese neuen Freiheiten verantwortlich genutzt und eben nicht ausgenutzt werden). Wer dagegen unter Quarantäne steht oder gar im Krankenhaus liegt, muss meist selbst den Kontakt zur eigenen Familie unterbinden. In diesem Sinne sind restriktive Reisebeschränkungen praktische Investitionen in den Erhalt künftiger Freiheiten – zum Vorteil von Unternehmen und Beschäftigen!

Tatsächlich können wir uns mit Blick auf die gegenwärtige Situation in zwei Richtungen irren: Vielleicht ist alles gar nicht so gefährlich und bald hat sich alles beruhigt. Vielleicht ist es schlimmer, als viele vermuten, dann kommt es zur Überlastung der Krankenhäuser, vielleicht generell der öffentlichen Einrichtungen. Wir sollten verhindern, dass wir uns in die zweite Richtung irren. Dazu ist eine Art besonnene „Panik“ vielleicht der verantwortlichere Weg: Jede Verringerung der Infektionsrisiken trägt dazu bei, die Gesamtentwicklung abzubremsen, und hilft auf diese Weise, die notwendige Zeit zu gewinnen. Die Verantwortung dafür sollen wir nicht einfach weiterschieben, sondern selbst handeln.