Zum ethischen Gebrauch von Radikalität

Martin von Broock, Andreas Suchanek

 Der Begriff der „Radikalität“ hat Konjunktur. Er ist inzwischen nicht mehr nur jenen Gruppen vorbehalten, die jenseits von Recht und Ordnung Revolutionen anzetteln wollen, sondern etabliert sich zunehmend in der Mitte der Gesellschaft. Umso mehr stellt sich die Frage: In welchem Maße lässt sich Radikalität verantworten?

Klimaaktivisten fordern radikale Umsetzungskonzepte zur Bekämpfung der globalen Erwärmung. Wirtschaftsvertreter mahnen radikale Umstellungen von Strategien auf das digitale Zeitalter an. Sozialverbände fordern radikale Maßnahmen zur Bekämpfung sozialer Ungleichheiten. Und Vertreter von Parteien fordern radikale politische Erneuerungsprozesse. Die Forderungen nach mehr Radikalität entspringen offenbar der Wahrnehmung vieler Menschen, dass sich in immer mehr drängenden Fragen immer weniger bewegt. Zugleich werden die Folgen vieler ungelöster ökologischer, ökonomischer und sozialer Herausforderungen immer deutlicher spürbar. Ist es also an der Zeit, radikaler zu werden? Brauchen wir nicht einen radikalen Lebenswandel zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele? Müssen Unternehmen nicht manchmal radikale Einschnitte vornehmen, um wettbewerbsfähig zu bleiben? Sollten wir im Dienste der Menschenrechte nicht radikal die Zusammenarbeit mit bestimmten Partnern in Frage stellen?

Radikalität bedeutet dem ursprünglichen Sinne nach, Probleme an der Wurzel („radix“), d.h. gründlich und vollständig zu fassen. Tatsächlich berufen sich radikale Forderungen meist auf sehr fundamentale Anliegen (etwa die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit, die Förderung von Wachstum und Wohlstand). Radikalität impliziert nach neuerem Verständnis aber auch, die eigenen Forderungen konsequent und ggf. mit Härte durchzusetzen. Der Gebrauch von Radikalität erweist sich mithin als ethisch ambivalent. Umso wichtiger ist es, gerade bei radikalen Forderungen einen ethischen Kompass zu Rate zu ziehen. Für einen solchen Kompass hat das WZGE einen Vorschlag entwickelt, der hier beispielhaft auf die radikale Zielverfolgung angewendet wird:

Elementare Voraussetzung für die Möglichkeit, überhaupt radikal denken und handeln zu können, ist Freiheit. Wer eine radikale Forderung vorbringt, kann sich hierzulande – in bestimmten Grenzen – auf den Grundsatz der Handlungs- und Meinungsfreiheit berufen. Im Gegensatz zu autoritären Regimen, wo die Deutungshoheit den Herrschenden vorbehalten ist, müssen freie Gesellschaften alternative Blickwinkel zulassen auf die Welt, wie sie ist, und wie sie sein sollte und den Wettbewerb um unterschiedliche Ideen und Ziele fördern.

Doch welche Maßnahmen auch immer radikal gefordert werden, ihre Umsetzung ist immer eingebettet in Zeit und (sozialen) Raum. Radikale Maßnahmen entfalten radikale Nebenwirkungen – und zwar meist sehr kurzfristig und in erster Linie für andere: Wer radikalen Klimaschutz einfordert, ist meist (noch) nicht unmittelbar von Arbeitsplatzverlusten betroffen. Wer dagegen eine radikal innovations- und wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik einfordert, spürt meist (noch) keine Schädigungen durch den Klimawandel. Heißt: Radikale Forderungen gehen in der Regel damit einher, anderen im Namen dringender Ziele (mindestens) kurzfristige Belastungen, Nachteile oder Schädigungen zuzumuten.

Deshalb ist die Haltung entscheidend, mit der radikale Forderungen vorgebracht werden: In welchem Maße wird Respekt gegenüber anderen Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten aufgebracht? Wer für das eigene Anliegen im Namen der Radikalität Rücksichtslosigkeit in Anspruch nimmt, der kann – dem ethischen Prinzip der Gegenseitigkeit (Goldene Regel) folgend –  nicht zugleich von anderen Rücksicht für die eigene Position erwarten. Insofern ist es auch zutiefst widersprüchlich, wenn Einzelne oder Gruppen einerseits Grundrechte (etwa Toleranz) in Frage stellen oder gemeinsame Werte (etwa Respekt) mit ihren Handlungen unterminieren, diese aber zugleich zur Begründung der eigenen Position in Anspruch nehmen (etwa, um sich selbst als Opfer von Benachteiligungen zu stilisieren). In dieser Form bedroht Radikalität als Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Sichtweisen die grundlegenden Voraussetzungen für das Zustandekommen von Dialog und damit die Möglichkeit, sich über gesellschaftliche Probleme und ihre Lösungen überhaupt verständigen zu können.

Damit stellt sich schließlich die Frage, welche Folgen die Umsetzung radikaler Forderungen auf die Freiheit – die eigene und die anderer – hätte. Wenn Radikalität als Abkehr vom Kompromissdenken eingefordert wird, dann impliziert dies ein Verständnis von gesellschaftlicher Interaktion, das von Interessengegensätzen („Win-Lose“) ausgeht und die Existenz gemeinsamer Interessen („Win-Win“) negiert. In einem so verstandenen Rahmen kann es nur um Dominanz und Durchsetzung, und nicht um Aushandlung und Ausgleich gehen. In der Konsequenz erfordert Radikalität dann immer auch Autorität, um jene Sichtweisen, die eine effektive Durchsetzung eines Anliegens gefährden, unterzuordnen (Hans Jonas sprach in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“ sogar von Tyrannis). So verstanden steht Radikalität im grundsätzlichen Widerspruch zu den Idealen einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung – das chinesische Modell lässt grüßen.

Heißt im Ergebnis: Die Lösung drängender gesellschaftlicher Herausforderungen kann es erfordern, die Probleme radikal, „an den Wurzeln“, anzugehen. Gleichzeitig gilt: Auch radikale Forderungen sollten sich selbst begrenzen. Denn wer im Namen drängender Ziele das eigene Eingebettetsein und die damit verbundenen Nebenwirkungen ausblendet, wer Respektlosigkeit gegenüber anderen Personen und ihren Ansichten und Interessen gutheißt und Begrenzungen von Autorität und Macht außer Kraft setzen will im Namen der eigenen Ziele, der beseitigt nicht nur die Wurzel, sondern vergiftet den Nährboden gesellschaftlicher Zusammenarbeit. Und nur mit Zusammenarbeit werden die dringend notwendigen Veränderungen gelingen.