Prof. Andreas Suchanek, Dr. Martin von Broock
„Die Zeit ist aus den Fugen geraten“ – das Zitat aus Shakespeares Hamlet erscheint aktuell wie nie. Denn es sind wahrlich keine einfachen Zeiten für Entscheidungsträger. Wer hätte etwa mit dem Brexit oder der Wahl Donald Trumps, mit der Zuspitzung der Flüchtlingskrise, dem Ausmaß des VW-Skandals oder dem plötzlichen Abgang manches Ministers oder Vorstands gerechnet? Und wer hätte noch vor kurzem darauf gewettet, dass ausgerechnet vom chinesischen Staatspräsidenten ein Plädoyer für freie Märkte zum Nutzen aller Menschen gehalten wird?
Entsprechend lautete das Motto des Weltwirtschaftsforums 2017 „Anpassungsfähige und verantwortungsvolle Führung". Denn Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft stehen mehr denn je vor der Frage, wie gute Führung in Zeiten kurzfristig eintretender und mitunter disruptiver Entwicklungen gelingen kann. Verantwortungsvolle Führung sollte jenen Ungewissheiten, so impliziert das o.a. Motto, agil und flexibel begegnen: durch möglichst wenig Bindung von Ressourcen und durch Ausbildung von Anpassungsfähigkeiten. Dies erscheint auf den ersten Blick folgerichtig und auch zustimmungsfähig. Wenn sich etwa die Bürger eines souveränen Staates in freier Wahl für eine neue Regierung entscheiden, dann ist diese Entscheidung zunächst einmal zu akzeptieren. Wenn technologischer Fortschritt altes Wissen und bestehende Kompetenzen entwertet, dann müssen neue Wege beschritten werden. Wenn naturgegebene Ereignisse den Lauf der Welt verändern, dann muss man sich darauf einstellen.
Allerdings gibt es eine offensichtliche Grenze: Wenn Anpassungsfähigkeit zu Opportunismus wird, entspricht dies dem Gegenteil von guter Führung. Denn gute, d.h. effektive und verantwortliche Führung legitimiert sich stets über einen Gestaltungsauftrag: Von Führenden wird erwartet, auf künftige Handlungsbedingungen positiv einzuwirken. Wer führen will, muss willens und in der Lage sein, Orientierung zu vermitteln, muss eine Richtung vorgeben und dafür einstehen. Dies ist zweifellos mit Risiken verbunden. Aber letztlich ermöglichen aus Sicht der „Folgenden“ erst sichtbare, nachvollziehbare Positionen eine vernünftige Entscheidung darüber, ob man dem Führenden die Zustimmung, das Mandat erteilen möchte – oder eben nicht. Wo alles flexibel und offen gehalten wird, sind solche Zuschreibungen nicht möglich.
Anpassung und Verantwortung stehen also offensichtlich in einem Spannungsverhältnis. Nach unserem Verständnis muss der Gedanke der Verantwortung Vorrang haben: Gute Führung zeichnet sich durch Haltung aus und eben nicht durch beliebige Anpassung. Es gilt zu entscheiden und zu begründen, wann man sich anpasst und wann man Position bezieht. Jene Entscheidungen sollten geleitet sein von Grundsätzen, die gerade nicht zur Disposition stehen. Denn letztlich gründet gesellschaftliche Zusammenarbeit auf wechselseitiger Verhaltensverlässlichkeit. Und gerade dort, wo verbindliche Regeln enden, fehlen oder – wie aktuell – zur Disposition gestellt werden, müssen Akteure durch die sichtbare Bindung an Grundsätze und Prinzipien gegenüber ihren Kooperationspartnern Vertrauen und Glaubwürdigkeit schaffen.
Daher stellt sich im Zuge der aktuellen Entwicklungen die Frage, ob Anpassung die geeignete Therapie für das Problem der Ungewissheit ist, oder nicht sogar gegenteilige Effekte hervorruft. Denn dort, wo sich alle anpassen, möglichst alle Optionen offen halten und (aus Sorge vor falschen Entscheidungen) klare Positionierungen vermeiden, mitunter sogar bewährte Grundsätze hinterfragen, wird die Unsicherheit nicht geringer, sondern größer. Wenn in einer wichtigen Frage jeder die Entscheidung vom Handeln des anderen abhängig macht und klare Signale in die eine oder andere Richtung vermeidet, führt dies unweigerlich zu Blockade und Stillstand.
Es sind offensichtlich gerade die so entstehenden Vakua, die neuen Kräften mit Führungsanspruch Möglichkeiten zur Positionierung bieten. Allein darauf zu vertrauen, dass sich jene, die mit einfachen Antworten und mangelnder Faktenkenntnis antreten, über die Zeit selbst diskreditieren, hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Vielmehr zeigt sich: Offenbar ziehen viele Menschen gerade in ungewissen Zeiten die einfache Antwort der fehlenden Antwort vor, getreu des Lichtenberg’schen Diktums „Es ist nicht gesagt, dass es besser wird, wenn es anders wird, wenn es aber besser werden soll, muss es anders werden.“
Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die zunehmenden nationalistischen Tendenzen in der gesellschaftlichen Debatte nicht gerade eine Folge von Anpassungsorientierung, Zurückhaltung und Entscheidungsvermeidung sind. Es fehlen Narrative für die globale Gesellschaft, für die europäische Gemeinschaft und für die Fortentwicklung von Demokratie und Marktwirtschaft. Und es fehlen vor allem überzeugte und engagierte Führungspersönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und darüber hinaus, die diese Narrative anschlussfähig vermitteln.
Gerade wenn die Zeit aus den Fugen gerät, verlangt verantwortungsvolle Führung: Haltung bewahren. Denn wer sich in diesen Zeiten nur anpasst anstatt zu gestalten, setzt seine künftigen Gestaltungsmöglichkeiten aufs Spiel.